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Hope ist nur einmal im Leben Teil 2/3

Sektor 5 - Mordor mit Wurzeln - 99,94 km, 2499 Hm

 

Dominic schreibe ich noch schnell, wo er sich verpflegen kann, bevor ich durch den Abend starte. In diesem Sektor soll es passieren. Hier wird die Strecke so richtig ihre Zähne zeigen, so wurde es mir zumindest am Abend vor dem Start berichtet. Für den Anfang ist Sektor 5 eher als moderat anzusehen, keine langen Anstiege, keine monströsen Wanderpassagen. Mir ist etwas flau in der Magengegend und das Bild vom Regenbogen für meine Frau ist das einzig Sinnvolle, was ich gerade so hinbekomme. Das flaue Gefühl im Bauch stört dann doch etwas. Zum Glück hat der Bahnhof in Sursee ein Musterbeispiel einer Keramikabteilung ganz in Edelstahl und mein Rad passt auch noch rein. Schon speziell so ein Klo, wo mein Rad neben mir steht. Wer hier mit Spritzen hantieren möchte, kann diese durch eine spezielle Öffnung in der Wand entsorgen.

Danach drehen die Beine, und wie! Über viele leicht profilierte Wirtschaftswege fliegen die Kilometer an mir vorbei. Da, genau an so einem scheinbar belanglosen Wirtschaftsweg steht mal wieder einer dieser Fans. Er hat eine halbe Portion von einem Hund auf dem Arm, vom Hope hat er durch andere Schlachtenbummler erfahren, die kurz vorher an seinem Wohnzimmerfenster auf ihr Idol gewartet haben. Wir quatschen kurz, guter Typ und Danke fürs Dabeisein!

Bis zum Einbruch der Dunkelheit bin ich motiviert sehr weit zu fahren, vielleicht auch bis zum Depot bei Km 510. Weit gefehlt, als die Nacht sich wie ein Schatten über die Schweiz legt, knechten mich die Höhenmeter mehr und mehr. Irgendwann muss ich vereinzelte Abschnitt laufen, Nebel kommt auf, jede Form von Moral windet sich aus der Verantwortung heraus, das wars. Da liegt eine Scheune an meinem Weg, mit einem Vordach und einem Podest. Ich fahre vorbei, überlege, fahre zurück, nehme ich. In Windeseile ist mein Nachtlager hergerichtet, noch kurz Tina per Mail davon überzeugen, dass ich noch Puls habe, dann bin ich weg. Nachtruhe bei Km 469.

 

Für gewöhnlich übernimmt meine Intuition die Entscheidung bei der Schlafplatzsuche im dunklen Wald. So auch diesmal. Doch als ich nach etwa 4h mich aus dem Schlafsack schäle, ist neben Nässe und Kälte noch irgendetwas anderes im Busch. Ich schlüpfe in die Radschuhe mache einen Schritt auf den Weg und sehe noch im Augenwinkel, wie ein Tier ein anderes Tier über den Weg jagt. Im Wald ist Stimmung und mir geht auch so all mählich der Kackstift. Mit einem ausgedehnten Frühstück wird das hier nix mehr, schnell alles zusammengewürfelt und verpackt, ich bin dann mal weg. Dominic schreibt mir zum ersten Gel des Tages: „Vorne wird gescratched“. Und ich werde heute vielleicht von wilden Tieren gefressen. Gilt das auch als Scratch, stellt sich mir die Frage. Jetzt bin ich in dem Streckenabschnitt, der die Schauergeschichten produziert. Und die Szenerie legt sich voll ins Zeug. Nebel klebt wie Zuckerwatte an den Berghängen, Feuchtigkeit garniert mit einer Morgenfrische zerren an meinem Gemüt. Meine Socken musste ich mir halbfeucht anziehen, der Rest ist nicht einmal im Biomüll erwünscht. Es fährt sich trotzdem recht passabel bis zu einem Punkt. Ich kann es mir nicht erklären, doch ich verlasse die Strecke, ignoriere den Pfeil auf dem Wahoo. Wird schon passen, rede ich mir ein. Ein unwirkliches Stück Weg, steil bergauf, wo ich mir einen Plan machen muss, wo ich welchen Fuß hinsetze? Wie bekomme ich das Rad da hoch? Fragen über Fragen. Als ich an einem Hof vorbeikomme, kontrolliere ich dann doch mal meine Route. So eine Riesensch… , verdammt 30 min komplett für umsonst. Es kostet einen Augenblick, bis ich mich gefangen habe. Ich muss den Weg zurück, Stromschlag am Weidezaun, Kuhscheisse, nasse Wiese, abseilen. Mein Rad muss ich noch durch ein Drehkreuz fummeln, sehr hakelig, schlimmer geht doch nicht mehr. Oh doch! Als ich wieder auf der Originalroute bin, realisiere ich, dass ich mich an diesem Punkt der Veranstaltung befinde, den ich am meisten fürchte bei Ultradistanzen. Der Moment, wenn die Verzweiflung mich fest im Griff zu haben scheint, da Strecke und/ oder äußere Bedingungen mich brechen könnten. An Fahren brauche ich nicht denken. Die Trails sind schwierig und mit meinem Set-Up nur sehr bedingt machbar. So klatschen die Pedale mal gegen das Schienbein, mal in die Wade, mal rutsche ich aus und mal ist irgendetwas anderes. Mein Blick neigt sich nach unten, in kleinen kontinuierlichen Bewegungen will ich einfach nur weiterkommen. Schieben, tragen, leiden und keiner da mit dem man sein Gedanken teilen kann.

Napf ist der Begriff, um den es sich dreht. Napf ist ein Berggasthof, da muss ich hin, das ist ein Meilenstein. Es sind sage und schreibe knapp 2,5h vergangen in denen ich mir 12km erarbeitet habe. Endlich auf Napf angekommen. Hier oben gibt es sogar Menschen, Noah ist da. Keine Ahnung, wer er ist. Er hat hier oben geschlafen und verfolgt unsere Machenschaften im Wald. Solang die Gastwirtschaft geschlossen hat, gibt es hier einen SB-Snacktempel, so nenne ich diese Oase.

 

Nach einem Balisto ergänzt durch ein Getränk verabschiede ich mich von Napf und Noah. Ein paar garstige Abschnitte und Kuhweiden muss ich noch passieren, dann rollt es deutlich besser bis ins Tal. Touristisch scheint mir die Gegend eher unterrepräsentiert zu sein, hier ist echt nicht viel los. Im Tal rechts weg nach Entlebuch. Es geht schon lange nicht mehr gut, aber hey die Hälfte des Hope liegt hinter mir. Bis zum Ort muss das Rad diverse Treppen nach oben gehievt werden, meine Moral lasse ich im Tal zurück, ich kann nicht alles mit mir rumschleppen. Im Coop zu Entlebuch mal wieder einkaufen. Prompt vergesse ich die Bananen zu wiegen, den Anpfiff gibt es von der Kassiererin, es tut mir so leid. Nach Finsterwald zum Depot bewege ich mich wie durch einen Fiebertraum. So unfassbar langsam schleiche ich voran, ist das noch Radfahren? In den zurückliegenden fünf Stunden habe ich 40km gemacht und erreiche jetzt Finsterwald, irgendwo in der Schweiz, … kaum zu glauben.

 

Kulinarisches Fazit Sektor 5

5x Sandwiches

1x Balisto

1x Power Bar Riegel

4x Gel

3x Cola

1x Banane

2x Rivella

x Flaschen

11 Weidegatter durchquert

 

Sektor 6 - 96,09 km, 3548 Hm

 

Diese Vielzahl an unterschiedlichen Halbirren fasziniert mich bei dieser Veranstaltung. Von Volker mit Kartoffelbrei habe ich bereits gesprochen. Der 21-jährige Prince bei seinem ersten Ultra war schon Thema und wird es auch noch einmal. Ich spreche mit einem Teilnehmer, der beim Hope 2024 mit einem Herzinfarkt aussteigen musste und in diesem Jahr wieder mit dabei ist. Einen besonderen Eindruck hat auch der Kandidat mit sportlicher Vokuhila-Frisur bei mir hinterlassen. Seine Taschen am 26 Zoll Rad waren aus Ikea-Tüten oder waren in solche eingepackt. Ein Internetfähiges Handy war meiner Erkenntnis nach nicht in seinem Besitz, da er beim Briefing am Freitag das tägliche Versenden einer E-Mail in Zweifel gezogen hatte. Aber er hat das Ziel in Montreux erreicht.

Es gibt auch Menschen, die ihre Einfahrt nebst Garage aus freien Stücken zur Verfügung stellen, damit unter anderem ich vorbeikomme und den Inhalt meiner Arschrakete ohne jeden Plan in der Einfahrt verteile. 

Wir sind also in Finsterwald, das Depot kurz nach der Halbzeit. Jeder Teilnehmer durfte ein Päckchen mit Verpflegung, Werkzeug, Klamotten etc. am Start abgeben, welche dann hierhergebracht wurden. Neben unseren Päckchen gibt es auch Erfrischungen, die für eine kleine Spende in Anspruch genommen werden können. Nicht zu vergessen der nackte Hintern, der von einem Teilnehmer für die Nachbarn zur Schau gestellt wird, … Arsch eincremen inklusive. Überforderung ist mein Credo der Stunde. Ich bekomme so gar nichts geregelt, nicht einmal die Powerbank kann ich richtig anstöpseln. Nach mehr als einer Stunde bin ich wieder unterwegs. Danke liebe Familie aus Finsterwald für euer Engagement, fühlt euch gedrückt, beim nächsten Mal bin ich auch gesprächiger, versprochen.

Es scheint nur ein Katzensprung bis nach Flühli dem nächsten Ort auf der Karte zu sein. Doch bei Wiesenbergen noch und nöcher bin ich wieder mal gut zu Fuß unterwegs. Unterwegs treffe ich erneut auf Noah, diesmal hält er mir ein Gatter auf. Ist er real oder sehe nur ich ihn? In Flühli werde ich von einem Autofahrer gestoppt und nach dem Weg gefragt. Kaum drei Tage in der Schweiz und schon bin ich einer von Ihnen. Kurz darauf treffe ich Marco in Ortskern wieder. Er zeigt mir die Steckdose im Außenbereich, lässt mich in den SB-Laden rein und hat auch noch einen heißen Tipp für ein kuscheliges Klo für mich. Der Mann ist bei jeder Begegnung eine große Hilfe und ein toller Gesprächspartner. Danke!

Mein Montag war bis hierher eine unfassbar langsame Angelegenheit. Aber jetzt drehen die Beine bei voller geistiger Präsenz. Den nächsten Anstieg rolle ich fast spielerisch hoch. Andere Seite runter, nächster Berg, viel schwerer, doch es dreht ganz gut. Fifty-Fifty bis zum Gipfel. 50% fahren, 50% gehen vor einer tollen Kulisse. Hier fehlt es auch an Touristen, sehr schön. In Schangnau, dem Heimatort von Beat Feuz (Ski-Abfahrtsolympiasieger) gehe ich wieder einkaufen, diesmal im Volg. Marco schließt hier auf und wir quatschen. Ein Einheimischer gesellt sich dazu. Jetzt unterhalten sich zwei Schweizer und der Deutsche versteht vielleicht 20%. Im nächsten Berg wird wieder alles wehtun, doch ab diesem Montagnachmittag kann ich das Hope immer mehr genießen.

 

Ich bin im drittletzten Anstieg des Sektors, öffne ein Gatter und muss laufen. Nur 30-45 min später bin ich am nächsten Gatter und kann wieder fahren. Da lagen nur Steine und Felsen, unfahrbar für mich. Diese ständige Latscherei nagt auch an den Schuhen. Am linken Schuh habe ich schon ein Stück der Sohle verloren und die Cleats muss ich regelmäßig nachziehen. Nicht sehr beruhigend, wenn der Ausgang der Veranstaltung an zwei Schrauben und einer Stahlplatte hängt. Vorletzter Anstieg, geht eigentlich. Oben raus gehe ich ein paar Meter zu Fuß und telefoniere etwas zur allgemeinen Belustigung. Meine Abfahrtsbemühungen werden erneut durch eine Schlucht gebremst, für die mir fahrerisches Können und Mut fehlen. Im letzten Anstieg des Tages spüre ich vor lauter Vortrieb schon gar nicht mehr, dass mir seit mehr als 60 Stunden die Radhose am Hintern festgewachsen ist, es läuft einfach. Da meldet sich der Tracker und schreit nach Batterien. Stop, alles auspacken was nötig ist. Mit dem Göffel löse ich die Schrauben vom Tracker, öffne das Gerät, und? Auf einmal ist alles wieder gut, alle Lämpchen wieder auf grün. Fertig machen zum Ärgern. Tina meint später, ich soll es im Blick behalten. Halb zehn in Söhrenberg, der sechste Sektor ist geschafft, ich bin dann doch sehr zufrieden mit dem Tag. Nur hier hat bereits jede Gastronomie geschlossen. SchniPoSa (Schnitzel-Pommes-Salat) fällt damit aus, wir machen dann mit Gel, abgerundet durch eine Cola, weiter.

 

Was und wieviel ich in jedem Sektor verbraucht habe, damit ist in Sektor 6 Schluss.

 

Sektor 7 - Ein Prince am Boden und Eggi die Große - 71,7 km, 2678 Hm

 

Die Sonne hat schon vor geraumer Zeit das Weite gesucht, Essen im herkömmlichen Sinne wird bis auf weiteres verschoben, aber noch ein Stück fahren, das könnte gut klappen. Für diese Nacht nehme ich mir nichts Außergewöhnliches vor, sondern plane mit einer Schlafpause im nächsten Tal. Der erste Anstieg in Sektor 7 entzückt mit Gleichmäßigkeit auf Asphalt, ich verzücke mich selbst mit gutem Druck. In der Mitte der Straße über den Gipfel und dann nur noch runter. Nur noch wäre zu einfach, wir wechseln gut durch, von der Straße ins Gelände und wieder zurück. Irgendwo im Gelände wartet ein Weidezaun auf mich. Fahrrad drüber heben, autsch. Aus dem Rücken heraus wuchtet sich der Bock nur mit einem stechenden Schmerz über das Hindernis. Beim Fußball würde jetzt ein Pfleger mit dem Ice-Spray auf den Platz kommen. Hier kommt nicht mal der Bus vorbei. Im Tal noch etwas flach rollen mit der Aussicht auf ein Chalet für die Isomatte.

Gleich rechts würde der nächste Anstieg beginnen, nur da liegt jemand auf der Straße. Bei genauerem Hinsehen ist es, … Prince. Auf dem Rücken liegend, einen Schuh hat er ausgezogen, das Rad liegt noch ein paar Meter entfernt. Was ist hier passiert. Er erkennt mich sofort und schwupp di wupp beginnen ein paar sehr außergewöhnliche Stunden für mich. Er erklärt mir, dass er etwas schlafen wollte und ihm die Füße wehtun. Ich versuche ihm zu erklären, dass er bitte nicht mitten auf der Straße schlafen soll, da der gemeine Mitteleuropäer sein geliebtes Kfz nicht zwangsläufig um schlafende Passanten herumbewegen möchte oder so ähnlich. In Giswil gibt es einen Spielplatz, der könnte als Schlafplatz ganz gut taugen. Es ist ein Paradies mit Trockenklo und frisches Wasser gibt es auch noch. Kurz nach Mitternacht wird die Stirnlampe gelöscht. In der Nacht zieht Prince mit seinem Schlafzeug spontan in das Hüttchen auf dem Spielplatz um. Zwischen drei und vier Uhr in der Nacht klingelt mehrfach sein Telefon, ich liege nur so halb auf der Isomatte. Hmm, gemessen an meinen überschaubaren Ansprüchen an eine Outdoornacht war das doch perfekt mittelmäßig. Am Morgen ist alles mal wieder so nasskalt, meine Socken, ach reden wir nicht drüber. Schnell etwas Katzenwäsche und Zähneputzen, irgendein Mist essen, Flaschen mit Malto fertig machen, dann Tina noch schreiben. Prince ist zehn Minuten vor mir weg, dann verlasse ich den Spielplatz meines Vertrauens mit viel Vorfreude auf den bevorstehenden Panoramatag schlechthin.

Auf den ersten Kilometern geht es hinauf zu einem See, den wir zur Hälfte umrunden bis nach Lungern. Von dort steigen wir weiter auf mit einem wunderschönen Blick über den See. Wir erreichen eine stark befahrene Straße. Ja herrlich, Berufsverkehr in der Schweiz ist genauso Kacke wie zu Hause. Mit Prince ist es wie mit einer Ziehharmonika, mal zusammen mal auseinander, aber immer in Sichtkontakt. In Meiringen, dem Tor zur großen Scheidegg wird das eingekauft, was in den Körper rein muss und in Anbetracht der wilden Mischung hoffentlich auch drin bleibt.

Mir fällt auf, dass Prince beim Gang durch die Gänge humpelt. Er trägt keine Socken in den Radschuhen. Das tut allein schon beim Hinsehen weh. Die nächste Info die Prince offenbart, haut mich um. Er fährt erst seit acht Monaten Rad. Da fällt mir doch fast die Banane aus der Schale. Wie bitte? Entweder ich habe mit Ultradistanzen zu lang gewartet oder er ist etwas zeitig dran. Wir müssen weiter.

 

Jetzt kommen die hohen Hügel der Schweiz mit Blick auf Eiger, Mönch und Jungfrau. Drei Riesen, auf deren Anblick ich mich schon seit Tagen freue. Prince fährt mir im unteren Drittel schnell davon. Im mittleren Part als es etwas flacher wird, kann ich wieder aufschließen. Mit jedem Meter, den wir aufsteigen, präsentiert sich dieses Kunstwerk aus schroffem Felsen mit Schneeresten in seiner ganzen Pracht. Im letzten Drittel kann ich mich kurzzeitig von Prince absetzen, da er Wasser auffüllt. Am Wegesrand werden wir von einer Schulklasse oder einer Pfadfindergruppe angefeuert, das tut so gut. Es bleibt Zeit am Gipfel einen Moment zu verweilen und sich das unten von oben zu begucken. Für den weiteren Tag benötige ich Energie, für Körper und Powerbank. An der nächstgelegenen Hütte wird dieser Bedarf nur in Teilen gedeckt. Meine Powerbank lade ich für ca.30min, nur die in Öl getränkte Pizza, die ich esse, besorgt mir mehr Bauchschmerzen als Energie. Prince kämpft mit seinen Füßen, sonst sitzen wir sehr schweigend am Tisch. In der Abfahrt zieht Prince seine Kreise ohne mich.

Unglaublich wie touristisch das hier ist. Lange Schlangen für irgendein Firlefanz an Bergvergnügen. In der sehr steilen Abfahrt bewerben sich Touristen für den Rettungseinsatz der Bergwacht. Buggy fahren, Tasche festhalten und nicht zu vergessen das eigene Unvermögen in einem Bild festzuhalten, beschreibt das Anforderungsprofil der hiesigen Tourimassen. Grindelwald ist in Sichtweite, Sektor 7 ist fast geschafft. Im Zick Zack geht es durch den Ort, mein inneres Wunschbild zu diesem Ort war deutlich idyllischer und reduzierter in seinem ganzen Erscheinungsbild. Da habe ich mich wohl geirrt, egal, übel ist mir ohnehin schon, schnell Sektor 8 laden.

 

Sektor 8 – Green is Grip - 101,6 km, 3.409 Hm

 

Der Sehnsuchtsort dieser Tage findet sich anscheinend recht häufig an Bahnhöfen. Ich bin schon fast vorbei, da kehre ich noch einmal um. Mein Rad lasse ich einfach vor der Tür stehen, rein da ins nächste Bahnhof-WC.

Mittagszeit in Grindelwald, die Kleine Scheidegg wartet. Da ich immer fleißig die Rennberichte von Urs Huber (Mtb-Profi) gelesen habe, weiß ich, dass die Kleine Scheidegg für gewöhnlich die Eiger Bike Challenge entschieden hat, denn dieser Berg muss sehr rücksichtslos mit Radfahrern umgehen. Schon auf den ersten Metern scheint es unterm Helm zu brodeln. Schnell noch eine neue Schicht Sonnencreme auf die 4-6 vorhanden Schichten aus Sonnenschutz, Dreck und Tränen. Prince ist nicht weit weg von mir. An einer Wasserstelle sehen wir uns das letzte Mal, reden ist gerade nicht so unser Fall, die Anstrengung ist zu groß. Natürlich muss ich auch hin und wieder meine Meter an diesem Berg zu Fuß machen, geht nicht anders. Ein paar verstreute E-Biker überholen mich bis zur Almhütte auf halben Weg zur Scheidegg. Hier macht auch Prince eine Pause ich erkenne sein Rad am Rand. Die zweite Hälfte ist noch viel gemeiner als der erste Abschnitt. Einem Arbeitskollegen mit Radsporthintergrund schreibe ich: „Die kleine Scheidegg ist ein Monster!“ Viel Schattenspendender Wald ist hier nicht mehr, dafür knechten mich die steilen Schotterpassagen. Mit Absicht laufe ich im Gras etwas abseits vom Weg, da meine Schuhe auf losem Geröll kontinuierlich wegrutschen. Nicht umsonst heißt es in den Cyclo Cross Übertragungen im Winter: „Green is Grip“.

Und wie ich da so mein Rad vor mich hinschiebe, kommt mir ein Paar mittleren Alters auf ihren elektronischen Rädern bergab entgegen. Es ist steil, für mittelmäßig talentierte Mountainbiker aber kein Problem. Diese beiden Exemplare erregen Aufmerksamkeit, durch permanentes Bremsen und das damit verbundene blockieren der Reifen. Die Körper zum Krampf geformt, fahren sie nur unwesentlich schneller bergab, als ich bergauf schieben kann. Danke liebe Industrie, dass durch diese wunderbare Entwicklung dann auch fast jeder Wannabe-Mountainbiker auf diesem Weg zumindest noch ein Kunde für die Bergwacht werden kann.

Zurück zum Sport. Dominic berichtet vom ersten Hosenwechsel gefolgt von einem Calippo für die Seele. Mein Gipfelerlebnis wird eingerahmt von reichlich Touristen, die sich den Aufstieg mit der Bahn ergaunern. Da muss ich mich auch nicht wundern, dass ich nur Menschen im Gegenverkehr hatte. Mit 14 SFr belaste ich die Kreditkarte für eine Fanta und eine Rivella, egal Hope ist nur einmal im Leben.

Abfahrt nach Wengen, dann Lauterbrunnen, die Anzahl an Vollpfostenstangen ist ganz ähnlich zu Grindelwald, nur weg hier. Es folgen viele geschenkte Kilometer am Fluss entlang Richtung Interlaken. Nach dreieinhalb Tagen in ein und derselben Radhose wünscht sich die Sanitärabteilung eine frische Hose. Nichts da, wir sind doch hier beim Sport und spielen nicht … Fußball.

Und schon bin ich auf einer Schnellstraße mit Radstreifen, nicht für lang aber durch den Verlust von Angstschweiß bin ich gleich noch einmal ein gutes Stück leichter für den zweiten langen Berg des Sektors. Doch bevor es losgeht, noch schnell im Volg die Zuckerindustrie milde stimmen, dann wäre ich so weit. Mehr als 20 Kilometer und knapp 1500 Höhenmeter machen mir auch keinen Stress mehr. Schon weit im vierten Tag angekommen, lohnt es sich nicht Gedanken zu machen, ob das Knie hält oder der nächste Anstieg zwei bis drei Stunden andauert. Vielleicht glaubt mir das niemand, doch ich kann alles, was passiert auch genießen. Ich rieche nicht sehr gut, klebe an zu vielen Körperpartien, verschleiße allmählich, alles egal, das Hier und Jetzt bereitet mir Freude.

Wie gesagt letzter langer Anstieg, die unter Hälfte rollt gut weg, die oberen 50% sind etwas fordernder. In der Mitte treffe ich erneut auf Marco. Wir tauschen uns aus, er erklärt mir wie weit er noch fahren will, ich habe auch Ideen, doch ich habe ohnehin keine Ahnung was da noch kommt. Als der Weg steiler wird, verabschiede ich mich von Marco bis wir uns in ein paar Stunden oder am Mittwoch wiedersehen. Daraus wird nichts. Marco fährt an diesem Tag weiter als ich und steigt am nächsten Morgen bei Kilometer 830 vom Rad. Es sollte sein letztes Hope werden, es tut mir ehrlich leid für ihn.

Dieser Hügel verlässt irgendwann den bewaldeten Bereich. Bei entsprechenden Steigungsprozenten kann ich dem Schotter nichts entgegensetzen. Laufen halt, Green ist Grip. Langsam schraube ich mich immer höher, kann beim Blick ins Tal schauen, wer mir da wohl noch auf den Fersen ist. Nichts. Wieder so ein Berg an dem ich über Stunden hinweg kaum Menschen zu Gesicht bekomme. Auf einer Alm tritt ein Mann aus der Käserei heraus und grüßt kurz, ich grüße zurück. Er ist der einzige in drei Stunden. Der Gipfel ist auf fast 2000m Höhe, wunderschön. Dominic wird ein paar Stunden später auch hier hochkommen und hier schlafen.

 

Die ersten Kilometer der nachfolgenden Abfahrt sind technisch, ich probiere es trotzdem einmal über diese wilde Wiese mit unangenehmen Drops und verborgenen Löchern. Dann rollt es sehr ordentlich, nur unterbrochen durch Weidegatter. Mein ursprünglicher Plan war es, die Gatter in jedem Sektor zu zählen für die spätere Dokumentation. Nur leider habe ich meine Aufnahmefähigkeit überschätzt, was mich dieses Vorhaben irgendwann aufgeben lässt. Mein Gedächtnisverlust führt so weit, dass ich sogar meine eigene Telefonnr. an einem Tag vergesse. Wann genau, ich weiß es nicht mehr.

Weiter unten im Tal erhalte ich die Info, das eine Tankstelle im weiteren Verlauf auf mich wartet. Genial. Bei diesem Mineralöldevotionalienhändler verbringe ich dann recht viel Zeit. Zum einen kann ich meine Powerbank und den Wahoo laden, zum anderen bin ich auch der kulinarische Genießer und erfreue mich an Käse mit Erdbeermilch in der Sitzecke der Tankstelle. Dominic lässt seinen Gaumen jubilieren bei einer Dose Fisch mit Kakao. Wer ist hier der wahre Gourmet? Mit Dominic halte ich Kontakt, er teilt mir mit, dass das Hope einen ersten Finisher hat. Ich lasse Glückwünsche ausrichten und freue mich später. Der Rest von Sektor 8 ist schnell erzählt: Im Tal bis kurz vor Spiez, links weg, es wird dunkel, kurzer Hügel, in Diemtigen ist der Sektor geschafft, 88,5 Stunden auf der Uhr.

 

 Nächste Woche Finale.

 

 

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