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Race Across Belgium - im Dialog mit meinem inneren Ronny

Musik, ich höre Musik. Elektronische Musik, Synthi-Pop, … es wird lauter, 112BPM, auf die Tonart komme ich nicht. Ich liege gerade, die Musik wird lauter, Text gibt es nicht … noch nicht. Das ist ein Telefon, … das ist mein Klingelton. Jetzt bin ich wach, die Beats umgeben mich. Meine Hände tasten nach dem Telefon, mir ist es unangenehm. Wo ist das Ding nur? Da, gefunden. Meine Hände greifen danach, nur finden sie nicht den Aus-Knopf. Parallel zu einem kurzen Blinzeln aufs Display findet mein Finger den passenden Knopf. Oh, meine Frau ruft an, zu spät gesehen, und aus. Jede Form von Körperspannung verlässt mich schlagartig mit dem Verstummen der Melodie.

 

Beim Blick an die Decke ermahne ich mich zum Aufstehen. Es klappt nicht. Der Oberkörper ist verspannt, die Beine versagen bei der Idee die Knie in Bewegung zu setzen. Warum an meiner linken Hand die äußeren zwei Finger taub sind, kann mir keiner sagen. Die Kehle trocken, meine Nase ist zu. Allgemeinzustand? Beschissen wäre noch geschmeichelt. So muss sich wohl eine Grippe mit einem üblen Sturz anfühlen. Es gelingt dann doch das Feldbett unter mir zu verlassen und meine Kleidung zu richten. Ahh schau an, der linke Fuß ist auch nicht bei 100%, so deutet es zumindest dieses dumpfe Kribbeln an. Leise stolpere ich aus dem Schlafsaal hinaus ins Freie. So langsam kommen meine Erinnerungen wieder, … Belgien, … Fahrradfahren und … eine neue Dimension kennengelernt.

 

Bienvenue en Belgique

Wäre, ja wäre ich an Allerheiligen 2023 pünktlich vom Radfahren zurück gewesen, dann wäre ich wahrscheinlich im Hier und Heute noch auf Arbeit. Doch die Anmeldung zum Mittelgebirgs Classique habe ich November ´23 verpasst, so ist das Race Across Belgium meine zweite Wahl für die Tausender Premiere. Nun halte ich mich an diesem Dienstag im Mai in Braine-l´Alleud auf einem Schulgelände südlich von Brüssel auf. Die Wetterlage ist trübetümplig, der Parkplatz und das Gebäude, wo die Veranstaltung für die nächsten Tage ihre Basis hat, überzeugen mit gekonnter Belanglosigkeit und lenken mich nicht wirklich ab. Durch die Tatsache, dass in diesem Teil der Welt überwiegend französisch gesprochen wird, bin ich darauf angewiesen, dass es Menschen gibt, die sich auch ganz gern mal in Englisch verständigen. Und es gibt sie. Es sind nur drei Personen der Organisation mit denen ich mich verständigen kann, aber jede dieser Persönlichkeiten hat im Laufe der nächsten Tage eine besondere Bedeutung für mein Abschneiden in dieser Wettfahrt.

 Fahrrad auf der Straße/dem Weg liegend - ein häufig verwendetes Motiv

 

Ich bin früh, ja sogar sehr früh da. So kommt es dazu, dass ich auch lange auf meinen Start warten muss. Vorbereitungen, Anmeldung, Materialcheck, alles geht schnell vorbei. Was nun? Für ein Schläfchen fehlt mir die Ruhe, dann helfe ich eben bei den Mathehausaufgaben per Telefon. Nach dem Abendessen schlüpfe ich dann endlich in die Radhose, meine Anspannung ist auch schon da. Schnell bin ich einsatzbereit und möchte gern starten, doch das Protokoll lässt mich noch nicht von der Kette. Dafür schleicht sich Nervosität in meinen Geist. Wie, Warum, Weshalb? Halt so Standardfragen, wenn ich mir Aufgaben stelle, die nicht gewöhnlich sind. Da meldet sich eine Stimme in mir:

 

Le Ronný: Hey du, schieb die Nervosität bei Seite, du brauchst das nicht.

Ich: Wer bist du, wo kommst du her?

Le Ronný: Ich bin die Stimme in dir, die dir all deine Bedenken und Sorgen nehmen wird. Dein innerer Schweinehund, der dich anbellt bei Bedarf. Ich bin dein Selbstbewußtsein, deine Überzeugung, dein Endgegner falls du daran denkst aufzugeben. Reicht dir das?

Ich: Öh ja, schon irgendwie. Hast du einen Namen?

Le Ronný: Du kannst dumme Fragen stellen. Nenn mich wie du willst.

Ich: Darf ich dich Ronny nennen.

Le Ronný: Ja, dann aber mit einem verspielten ´ über dem „y“, so ein „le Ronný“, hier wird ja französisch gesprochen.

Ich: Hallo Ronný! Wie lang bleibst du?

Le Ronný: So lang wie du mit mir redest und mich brauchst. Kann sein, dass ich nicht immer sofort verfügbar bin, hier fahren noch andere Zweifler rum, die von Zeit zu Zeit einem mentalen Tritt in den Hintern benötigen. Passt das für dich?

Ich: Ja. Und jetzt?

Le Ronný: Jetzt leg los, schließlich hast du die Fähigkeiten und den Mut es zu probieren.

 

Entgegen der Ankündigung verschiebt sich der Start um eine Stunde. Soll bedeuten, der erste Starter brennt seine Wattzahlen um 21 Uhr ins Geläuf und jede Minute später folgt ein weiterer tollkühner Starter. Eine Solostarterin und mehrere Zweier-Teams sind ebenfalls vertreten. Meine Startzeit ist auf 21:39 Uhr fixiert. Während dem Startprozedere läuft locker leichte Popmusik, die Orgacrew tänzelt locker um die Starter herum. Ein Bild wird von jedem Starter geknipst, schließlich benötigt die Polizei ja Anhaltspunkte, falls einer verloren geht. Viele Starter haben Freunde oder Verwandte mit am Start, vereinzelt haben die Schaulustigen auch Plakate für ihre Lieblinge gebastelt. Ich habe nur le Ronný in meinem Kopf, sowie Tanja (Frau) und Falk (Freund) am Live-Tracking. Licht, Wahoo und Beine an. Über dem Startkorridor fliegt eine Drohne, bunte Scheinwerfer und künstliche Nebelschwaden sorgen für Atmosphäre. Dann stehe ich im Zelt bereit zum Start. Mit ein paar wenigen Worten stellt mich der Moderator vor, ich kann ihm ohnehin nicht folgen, falsche Sprache. Mit seiner Stirnlampe leuchtet er mir elegant ins Gesicht und zählt mich runter. 58, 59, Depart. Dann bin ich raus, die längste Radfahrt meines Lebens beginnt.

 

Le première Loop …

… kommt mit 480km um die Ecke der untergehenden Sonne. Bis ich mich eingerichtet habe, stellt sich mir die erste Frage: Bin ich hier eigentlich richtig? Hier ist ja keiner, der Mitbewerber zu sehen, was mich zum Zweifeln an der Streckenführung bringt.

 

Ich: Hast du einen Tipp für mich Ronný?

Le Ronný: Bin ich Google Maps? Lade die Strecke neu, dann siehst du, ob du richtig bist.

 

Die Strecke passt, also geht es weiter. Der erste Mitstreiter fährt mir entgegen und flucht auf Französisch. Er hat sich verfahren. Ich tu es ihm gleich. Hier bin richtig, jetzt bin ich beruhigt. Aus lauter Langeweile zähle ich jeden Mitbewerber mit, den ich überhole. Schnell bin ich zweistellig. Auch der Schnitt entwickelt sich zügig, ein 26-27er Schnitt nach drei Stunden verblüfft mich in der Dunkelheit. Kurz vor Namur fahre ich mehrere Mitstreiter auf. Zusammen flitzen wir dann durch die Stadt bis zum legendären Anstieg der Zitadelle. Es ist so schade, bei Dunkelheit diesen Anstieg bewältigen zu müssen, zu schön ist diese Festungsanlage, die über Namur thront. Nach 4h bin ich bei 23 Überholvorgängen angekommen, die Anstiege nach Osten in Richtung Malmedy werden länger. „Oh der BVB ist im Champions League Finale“, blubbert es aus mir heraus, als ich bei einer Pinkelpause einen Blick auf das Smartphone erhasche. Eigentlich will ich es nicht, aber ich kann nicht widerstehen und schaue gleich noch aufs Live-Tracking. Upps 7.Platz, wie kam es dazu?

 

Le Ronný: Jetzt geht es nicht mehr darum 1000km zu schaffen, jetzt fährst du auf Platzierung. Vor 25 Jahren hast du dein erstes Rennen bestritten und jetzt fährst du dein längstes Rennen.

 

Wir dödeln zum Teil auf den Strecken von Lüttich -Bastogne- Lüttich herum, nur nicht auf World-Tour Niveau. Stavelot, Cote de Stockeu, alles ganz nett. Unterwegs mit einem Belgier auf einem Radweg erregt ein ungewöhnliches Hindernis meine Aufmerksamkeit. Es ist weiß, groß und bewegt sich behäbig. Wahrscheinlich das letzte Einhorn!? Ich hätte nicht gedacht, dass die Halluzinationen so früh beginnen. Ach, es ist nur ein Hund, der da liegt. Der Belgier hält sich schön hinter mir auf - soll doch der Deutsche zuerst gefressen werden. Danke. In Malmedy löse ich meinen ersten Versorgungsengpass nach 200km auf. Zwei Flaschen waren dann doch etwas zu wenig für etwas mehr als 8h Fahrtzeit, zum Glück schenkt der Morgen mir eine Bäckerei in Malmedy.

 

Das Dach der Tour führt über den höchsten Punkt in Belgien der/die/das Botrange, den einzigen „Pass“ in dieser Radfahrt. Da ich hier schon einmal war, kenne ich die Tücken der Abfahrt nach Eupen. Breite Straße, viel Verkehr und an diesem Morgen reichlich Nebel. Jeder Autofahrer, der mich an diesem Morgen knapp überholt und es als notwendig erachtet zu Hupen, der hat sich das herzliche „Fuck You“ aus meinem Mund redlich verdient. Grüße gehen raus! Nun liegen 230km und ein beträchtlicher Anteil an Höhenmetern hinter mir. Durch die kalte Witterung trinke ich nicht sonderlich viel, meine Nahrungsaufnahme passt. Bleiben noch 250km bis zum Ende der ersten Schleife.

 

Von Eupen über Kelmis hangle ich mich entlang der deutschen Grenze. Den letzten Mitbewerber habe ich in Malmedy gesehen/gesprochen. In Vise rolle ich in eine Straße, in der sich gerade der Wochenmarkt abspielt. Um auf der Strecke zu bleiben, entscheide ich mich mein Rad durch diese Straße zu schieben, da von der Rennleitung keine Meldung veröffentlicht wurde wie damit umzugehen ist. Und dann wird es schlimm! Flach am Kanal, flach durch den Wald, topfebener Radweg, Wohngebiete ohne irgendwas, kleine Ortschaften, die Strecke verliert eindeutig an Spannung. Mein Wahoo meldet die nächste nennenswerte Steigung in 150 km, oder vielleicht doch noch mehr. Hier kommt meine Moral unter die Räder. Zwei- Dreimal die Euphorie und Motivation mit Füßen treten, da bleibt nicht viel übrig.

 

Le Ronný: Hinten kackt die Ente für gewöhnlich, weitermachen!

Ich: Ach halt doch die Kl…

 

Mein Sitzbereich schmerzt, was im weiteren Verlauf auch nicht mehr besser werden wird. Sollte ich noch Appetit haben, dann nicht auf den Plunder in meinen Taschen. Ich suche Supermärkte für den netten kleine Schmackofatz, der mich ein wenig nach vorne bringt. Ein Supermarkt später habe ich Kinderriegel in der Trikottasche. Einen davon verschenke ich gleich an einen Franzosen, der mich einholt.

Flache Strecken liegen mir gar nicht, so meine Einschätzung. Den Beweis erbringe ich, indem ich unruhig auf dem Sattel vor und zurück rutsche, Rollereigenschaften Fehlanzeige. In den Nachmittagsstunden bin ich seit mehr als 30 Stunden wach und seit gut 18 Stunden auf dem Rad, es geht nicht gut. Mit den kurzen Steigungen auf den letzten 50km dieser ersten Runde kommt wieder etwas Spannung ins Geschehen, doch der Kopf will nicht mehr.

 

Never scratch at night oder im Vorabend

Es sind 21h und 12min vergangen, die ich für die ersten 480km benötigt habe, Platz 6 Overall, ist schon gut. Am Bas de Vie (Veranstaltungsort/ Start-Ziel) angekommen, ist meine Entscheidung schon fast gefallen, jetzt brauche ich nur jemanden, der mir diese Entscheidung absegnet. Da kommen die Personen ins Spiel, die für mich die Fixpunkte vor Ort sind und mit denen ich mich verständigen kann. Jennifer fotografiert als Teil des Media Teams den ganzen Tag die Teilnehmer*innen. Als sie mich sieht, schnappt sie sich mein Rad und transportiert es ins Gebäude. Sie macht keinerlei Anstalten meinem Wunsch nach Aufgabe stattzugeben. Ich solle doch essen und trinken. Jennifer sagt im Nachgang: „ … we never scratch before a good night of sleep.“ Die charmante Dame vom Vortag, die geduldig meine Fragen beantwortet, kümmert sich auch um mich. Sie hat hier das Sagen so meine Wahrnehmung. Essen und Trinken bietet sie mir an, eine Schlafgelegenheit im Untergeschoss für alle Sportler*innen hat sie auch noch im Angebot. Auch sie zeigt nicht die Absicht, dass ich das Rennen verlassen darf. So sitze ich in diesem großen, hellen Raum, beobachte Platz zwei, der gerade aufbricht in Runde 2, begrüße Platz 7 und versuche mich selbst zu verstehen. Ein Telefongespräch mit meiner Frau, gefolgt von einem Anruf bei Falk. Auch hier keine Absolution zum Aufgeben. Falk setzt mich letzten Endes wieder aufs Rad, doch erst muss ich etwas schlafen. Wie genau er das schafft, keine Ahnung, er kann es einfach!

 

Good Morning in the Morning, auf zu Runde 2

Schon toll, was so 3-3,5 Stunden rumliegen mit mir machen. Noch bevor der Wecker klingelt, bin ich zitternd wach geworden. Scheiße kalt ist es unter dem dünnen Deckchen, aber was solls. Entschlossenen Schrittes betrete ich kurz nach Mitternacht das Lagezentrum, mache mich fertig und steige aufs Rad. Auf den rustikalen Straßen verliere ich zügig meine drei Bananen, die ich auf die Arschrakete gebunden hatte. Jetzt muss ich kurz nach Mitternacht wieder auf Riegel und Gel umschwenken, bevor der Morgen mir eine Einkaufsmöglichkeit schenkt, oder auch nicht. Bei der Gelegenheit kontrolliere ich das Live-Tracking und stelle fest, dass ich mich auf P4 eingefunden habe. Der Abstand auf P2/P3 liegt ungefähr bei 100km. Nach hinten habe ich ca. 40km Vorsprung, gefühlt zwei Stunden.

 

Ich: Du Ronný, ich bin vorn dabei. Was ist da wohl noch möglich?

Le Ronný: Moin. Schau auf deine Versorgung und mach nix kaputt, dann kannst du vor der dritten Runde noch Zeit gutmachen.

Ich: Vielleicht noch etwas Motivation?

Le Ronný: Vielleicht später, ich bin gerade erst wach geworden.

 

Die Witterung wird ungemütlicher, tiefe einstellige Temperaturen umwabert von dichtem Nebel. Die 211km lange Runde bietet mehr als 2000 Höhenmeter. Die Richtungswechsel gepaart mit kurzen Anstiegen fordern meine Aufmerksamkeit. Mit dem Morgengrauen fällt mir in einer Abfahrt die Kette vom Blatt. Anhalten, wieder auflegen, kein Ding. Doch diesmal rolle ich los und beim Tretvorgang zieht es die Kette hoch. Südlich von Charleroi steht ich nun am Straßenrand und suche die Macke. Da ist das Problem. Ein Zahn am Kettenblatt ist verbogen, was die Probleme mit der Kette bedingt.

 

Le Ronný: Hatte ich nicht gesagt, dass du nichts kaputt machen sollst?

Ich: Hast du gerade ein passendes Kettenblatt zur Hand?

 

Hastig suche ich nach einem Gegenstand, mit dem ich diesen Zahn auf Richtung biegen kann, ohne ihn dabei komplett abzubrechen. Die Minipumpe scheint mir geeignet, Bingo es funktioniert. Auf den kommenden 400km nur etwas Vorsicht walten lassen, dann wird das bestimmt gut. Da sich allmählich Tageslicht im Nebel breitmacht, halte ich Ausschau nach Supermärkten, Bäckereien oder einer schnöden Tankstelle. Tankstellen sind an den Nebenstraßen in Belgien meist nur mit zwei Zapfsäulen inkl. Bezahlautomat ausgestattet. Einfach fahren, irgendwann ergibt sich schon was.

 

Halb sieben in der Nähe Philippeville löst sich in schöner Beständigkeit ein Tropfen Wasser von meiner linken Augenbraue und zerschellt formvollendet auf meiner Rahmentasche. Unterbrochen wird dieser meditative Zeitvertreib von einem Kleinbus, der mir an einer Landstraße auflauert. Es ist das Mediateam, Jennifer ist auch dabei. Zeit für eine Pause, ich stoppe wie selbstverständlich neben dem Bus. Die Einsamkeit lässt mich den Rennmodus kurz verlassen. Bevor ich weiter mit mir selbst spreche, möchte ich die Gunst der Stunde nutzen und mich unterhalten. Jennifer fragt, wie es mir geht. Alles gut antworte ich in die Kamera, die Beine drehen ganz ordentlich, … vielleicht lüge ich mich gerade auch selbst an. Als ich nach einem Bäcker frage, macht sie mir Hoffnung auf den nächsten Ort. Während wir uns unterhalten, macht sie ein Bild von mir, dass nach meinem Befinden die ganze Widerstandsfähigkeit zu Tage fördert, die mir in diesen Tagen von diesem Rennen abverlangt wird. Danke Jennifer Nguyen für dieses großartige Bild(siehe Titelbild)!

 

Die Hoffnung auf einen Lebensmitteleinzelhändler treibt mich von Ort zu Ort. Endlich so scheint es, könnte ich Glück haben. Nee, doch nicht. Dafür gibt es einen Automaten für Eier. Noch eine Straße weiter, dann endlich ein Bäcker. Die Dame von der Patisserie und ich verstehen einander nicht wirklich, aber mit Gebäck und zwei Cola sieht mein Tag bei Kilometer 616 schon um einiges freundlicher aus. Meine Moral hat nun wieder Vortrieb, noch 80km bis zum Ende der Runde. Zwischendrin bin ich noch der Gegenverkehr für eine RTF (RaucherTourenFahrt), in manchen Orten werde ich freundlich gegrüßt, bis eine erneute Marktpassage in Binche mich wieder zum Absteigen auffordert. Die zweite Runde ist mit weiteren Unwägbarkeiten gnädig mit mir, so treffe ich gegen halb zwölf erneut im Basislager ein.

 

Beckenrandschwimmer, sei kein scheiss Arschloch

In Crossermanier rolle ich bis zur Türschwelle, schwinge mich vom Rad und mache einen kleinen Hopps hinein ins Basislager. Rad abstellen, Beinlinge ausziehen, essen, alles auffüllen, etc. Mein Plan ist nach 15-20min Pause weiterfahren. Soweit der Plan. Doch da gibt es noch Person Nr. 3, mit der die Kommunikation möglich wie auch unterhaltsam ist: der Moderator der Veranstaltung. Vom ersten Tag an überlege ich, ist er Brite oder Franzose? In beiden Sprachen wirkt er wie ein Muttersprachler. In dem Moment, wo ich mich auf den Weg machen möchte, tritt er an mich heran. Am Tag der Anmeldung hatten wir schon Kontakt und nun diskutieren wir, die für ihn schönsten deutschen Wörter. Ganz oben in seiner Hitliste ist „Scheisse“ knapp gefolgt von „Arschloch“. Deutschland das Land der Dichter und Denker und das Einzige, was unsere europäischen Nachbarn von der deutschen Sprache mitnehmen sind Schimpfworte!? Doch der Germanist in mir möchte die deutsche Sprache auch bei den Nachbarn salonfähig machen. So gebe ich dem Moderator noch eine weitere großartige deutsche Vokabel mit an die Hand, die er gern verwenden darf (da nehme ich auch kein Geld für): Beckenrandschwimmer! Diese Diskussion über die sprachlichen Unzulänglichkeiten tut nix zur Sache, doch für einen Moment vergesse ich das Hier und Jetzt, einfach sehr amüsant dieser Dialog.

 

Ronde van Vlaanderen

Die Sonne kitzelt meine Beine, noch 300km bis zur Ziellinie, motiviert bin ich auch, es ist angerichtet.

 

Le Ronný: Wo bleibst du denn?

Ich: Völkerverständigung und so.

 

Mich erwartet nun Flandern, wie ich es aus den Frühjahrsklassikern kenne, Pflasteranstiege mit ganz viel Radsportglanz. Doch bevor es so weit ist, rolle ich mal wieder in eine Straße mit einem Markt. Der Security-Typ versichert mir, dass ich hier nicht fahren darf. Da bleibt mir nichts anderes übrig, als zu Fuß diesen Trödel-Garagenverkaufsmarkt zu durchqueren. Geschmeidige 500m oder mehr Fußmarsch benötige ich für diesen dritten Markt und gekauft habe ich auch nix. Overijse winkt mit der Moskestraat. Einfach nur schlimm! So groß meine Vorfreude in Anbetracht dieser legendären Anstiege auch war, doch mit 700km plus in den Beinen ist die Realität der Hügel in allen Körperteilen nur noch schmerzhaft.

 

Hinter Overijse bei Kilometer 752 komme ich am Bahnhof Groenendaal vorbei. An und für sich nichts, was erwähnt werden müsste, nur habe ich mich zu diesem Zeitpunkt bereits verfahren. Mein Telefon klingelt und Arnauld ruft an. Arnauld ist der Rennleiter und sitzt tagelang vorm Bildschirm. Er achtet darauf, dass die Teilnehmer*innen auch nicht die Strecke verlassen. Nun ich bin falsch und Arnauld schickt mir ein paar Minuten später einen Kartenausschnitt und Straßennamen, denen ich folgen muss.

 

Ich: So ein Mist, wie konnte das passieren?

Le Ronný: Schrei mich nicht an, ich war es nicht! Meine Aufgabe ist es dich aufzubauen und nicht dich zu manipulieren. Rege dich nicht auf, konzentriere dich jetzt.

 

Immer ein Auge aufs Mobiltelefon, ein Auge auf den Wahoo und ein Auge auf den Straßenverkehr. Diese Veranstaltung beschert mir multiple Blickwinkel. Anhalten - losfahren, anhalten - losfahren, so geht das eine ganze Weile. Es dauert bis sich das Live-Tracking aktualisiert hat und ich mir sicher sein kann wieder in der Spur zu sein. Unterdessen habe ich von der Rennleitung eine gelbe Karte verpasst bekommen. Was eine zweite gelbe Karte bedeuten würde, will ich nicht rausfinden. Mein 40 Kilometer Vorsprung schmilzt, doch irgendwann im Speckgürtel von Brüssel bin ich wieder sicher auf der Strecke. Essen und trinken habe ich in diesen 60 Minuten der Neuorientierung komplett vernachlässigt. Dann wirft sich ein Sandwichladen in mein Blickfeld. Anhalten, rein, keine Kunden vor mir, bestellen, bezahlen, das alles schnell schnell. So kommt es natürlich nicht. Die Dame und Herr hinter der Theke wollen reden, beraten, mich von ihren Fähigkeiten überzeugen. Mein Einwurf, dass ich gerade ein Rennen bestreite, nötigt ihnen nur ein zaghaftes Lächeln ab. Englisch sprechen sie auch nicht wirklich, doch nach wenigen Minuten haben Sie Käse, Hühnchen und eine Sauce zwischen zwei Baguettehälften geklatscht. Noch zwei Cola und raus hier, gegessen wird auf dem Rad. Noch fühle ich mich ganz gut, dann ist es ja ein Versuch wert noch einmal körperlich zu investieren, um meinen kümmerlichen Restvorsprung von 5km auf Platz fünf wieder auszubauen. Es vergehen zwei bis drei Stunden, dann breche ich mein Vorhaben ab. Am Vorsprung hat sich nichts geändert, nur die Schmerzen in den Händen, im rechten Knie und an den Füßen haben zugenommen. Jetzt schaue ich öfters hinter mich, denn irgendwann muss mein Mitbewerber mich mal aufrollen. Noch ein Zwischenstopp im Späti von Herzelee bevor die dritte Nacht mich erwartet.

 

Crunchtime

Und schon ist Valentin da und mein vierter Platz hat sich erledigt. Ich spendiere Valentin eine Runde Tuc-Cracker, bevor er sich in seinen Auflieger schmiegt und als Punkt am Horizont meinen Augen entschwindet. Aber es gibt ja noch Kopfsteinpflaster, welches mich vom Verlust der Platzierung ablenkt.

 

Ich: Bitte schiebe mich.

Le Ronný: Geht nicht, ich bin doch nur in deinem Kopf. Ruf dir Sachsen-Anhalt im April 2022 ins Gedächtnis, da hast du solche Passagen geliebt.

 

Für den Körper ist es eine stetige Quälerei. Bis ein Bauteil meines Körpers wirklich mal die Arbeit ablehnt, ist es nur eine Frage der Zeit. Bei mir entscheidet es sich zwischen geschwollenen Füßen und dem Schmerz im rechten Knie. Kilometer 873, wir sind in Nokere. Tim Merlier hat die letzten drei Austragungen von Nokere Koerse auf diesem finalen Pflastersprint für sich entschieden. Schon toll.

 

Le Ronný: Über was für einen belanglosen Scheiss du nachdenkst. Ich fasse es nicht.

 

Kleidungstechnisch mach ich mich schick für die Nacht, es wird wieder kalt. Durch Waregem rollen, denn dann beginnen die ersten Hügel von der Flandernrundfahrt und Co. In Oudenaarde werfe ich einen Blick aufs Telefon. Oh Falk hat geschrieben: „Bleib dran, die Nummer 1041 ist nur einen knappen Kilometer vor dir.“ Es ist 22:26 Uhr und mehr als 48h im Rennen liegen hinter mir. Ich mach erst einmal ein Bild vom Marktplatz in Oudenaarde.

 

Le Ronný: Jetzt fahr schon, du bist Rennfahrer.

 

Ortsausgang am Kanal entlang, jetzt trete ich doch drauf, auch wenn das Knie schmerzt, egal. Der Nebel am Kanal kommt schneller als gewünscht und meine Aufmerksamkeit ist nur noch eine Teilzeitkraft. Warum das Auto mit dem Pärchen im Innenraum wackelt? Ich frage nicht nach. Dann ist er da, der Oude Kwaremont. Drecksberg! Mit 5-6 km/h schleiche ich hier hoch. Im Frühjahr stehen hier tausende Menschen in 5er Reihen, nur heute ist nix los. Hier will ich nicht absteigen, auch wenn es keiner sehen würde. Weiter geht es zum Paterberg. Nicht viel besser läuft es hier im Vergleich zu der Rampe zuvor. Es sind mehr als 900 Kilometer vorbei und für mich geht es nur darum auf dem Rad zu bleiben. Ach übrigens, ich bin auf P4, der Konkurrent hat in Oudenaarde einen Powernap gemacht. Weiter zum Koppenberg, alles wird immer schwerer, die Beine und die Anstiege. Bei jeder Pedalumdrehung spüre ich wie mein Hinterrad von den feuchten Steinen in die nächste Fuge rutscht. Wäre ich ein gewöhnlicher Worldtour-Profi, dann würde ich wahrscheinlich absteigen. Bin ich aber nicht, ich fahre bis hoch. Alle weiteren Pflasterabschnitte ertrage ich einfach klaglos. Mein Vorsprung auf P5 ist nur 3-4km groß oder klein, noch ca. 80km bis ins Ziel.

 

Drama

Irgendwo auf einem belgischen Radweg klingelt erneut mein Telefon, es ist Freitag, der 10. Mai, 01:02 Uhr. Arnauld ruft an, schon wieder verfahren. Er meint die Originalstrecke befindet sich links von mir und er will mir ein Bild schicken (auf  das Bild warte ich noch drei Wochen später). Das war es bestimmt, jetzt ist es vorbei, oder?

 

Ich: Verdammt ich will schreien, nur fehlt mir die Kraft.

Le Ronný: Bleib ruhig.

Ich: Ich kann mich nicht orientieren, alles sieht gleich aus, aus welcher Richtung komme ich gerade? Fahr ich gerade hoch oder runter? Ich krieg das nicht mehr auf die Reihe.

Le Ronný: Nimm dein Telefon und mache es wie am Nachmittag. Das kostet Zeit, ja, aber wir kommen an.

Ich: Fuck, das wird knapp. Meine Geräte laufen fast alle auf Reserve und die Powerbank ist energetisch auch dünn unterwegs.

 

Also weiter. Nach einigem hin und her komme ich zurück auf eine Straße, das könnte passen. Wo ist jetzt der passende Abzweig? Kilometer 950 im Kreuzungsbereich einer Hauptverkehrsstraße stelle ich das Rad an die Seite, zu groß ist meine Unsicherheit mich noch einmal zu verfahren. Hier warte ich auf Platz 6 mit der Hoffnung, dass er mich für die letzten Kilometer mitnimmt. Es handelt sich um eine sehr breite Straße, es gibt eine klassische belgische Tankstelle ohne irgendwas und einige Gebäude drumherum. Es ist 2 Uhr in der Nacht und mein Unterbewusstsein spielt mir immer mehr und mehr Streiche, in dem ich Sachen sehe, die es gar nicht gibt. Oder doch?

 

Ich: Du Ronný halten sich Menschen in dem Garten schräg gegenüber auf? Höre ich Stimmen aus der Richtung?

Le Ronný: Du bist müde und erschöpft, denke nicht über so etwas nach, sondern bleibe mit dem Kopf im Rennen.

Ich: Und da drüben an der Straße, da bewegt sich doch was?

Le Ronný: Versuche zu essen und zu trinken, noch etwa 3-4 Stunden bis ins Ziel.

 

Die Versuche bei mir und dem Rennen zu bleiben sind schwer, zu viele wirre Gedanken um mich herum. Ständig kontrolliere ich das Live-Tracking, wann Platz 6 bei mir vorbeikommt. Da ist er endlich. Wir sprechen kurz, er nimmt mich mit. Noch 70km, jetzt nur noch im Spiel bleiben. Bergrunter ist gruselig, mein französischer Begleiter ist verdammt schnell. Ich muss mich darauf einlassen und riskieren. Seine beiden blinkenden Rücklichter blenden mich. In den flachen Abschnitten fahre ich neben ihm, berghoch bin ich deutlich besser. Mein rechtes Knie? Einfach ignorieren. Vielleicht sind wir extrem schnell unterwegs, oder das ist auch nur so eine Wunschvorstellung. Die Mauer von Geraardsbergen – Kapelmuur - Mur de Grammont drei Namen für ein und den selben Anstieg. Bei gutem Wetter und mit frischen Beinen kann das hier sicherlich Spaß machen. Jetzt gerade nicht.

 

Le Ronný: Mittendrin ist alles Scheiße, aber wenn es vorbei ist, dann …

 

Nach der Muur kommt der Bosberg, der letzte Pflasterberg, noch 50km. Mein Begleiter und ich unterhalten uns. Englisch sprechen, wenn der Kopf schon lange nicht mehr will, geht doch noch. Mit Gelbeutel für Gelbeutel halte ich den Vortrieb am Leben. Für mein Gefühl drehen wir uns im Kreis und fahren nicht konsequent in eine Richtung. Ich mache trotzdem mit, Gleichgültigkeit breitet sich aus. Mit noch 20km vorm Ziel ziehe ich mein letztes Gel für diese Ausfahrt. Mein Körper riegelt mehr und mehr die Leistungsbereitstellung in allen Bereichen ab. Wir fahren in der Morgendämmerung durch ein Wohngebiet, ich sehe Kinder, die einen Gegenstand am Straßenrand wegschieben. Als wir näherkommen, ist es nur ein Straßenschild. Irre, ich bin durch. In den Abfahrten muss ich jetzt rausnehmen, das wird zu gefährlich. Meinem französischen Begleiter kann ich nicht mehr folgen, noch 8 oder 9 Kilometer. Über die zwei verbleibenden Hügel rette ich mich nach Braine-l´Alleud. Meine Vorstellungskraft sieht an jeder Ecke irgendeinen Quatsch, den es gar nicht gibt. Doch jetzt noch einmal Konzentration, durch die Stadt würde ich gern die Verkehrsregeln befolgen, noch zwei Kilometer.

 

Ich: Du Ronný gleich bin ich drin, Danke fürs dabei sein.

Le Ronný: Hey, ich kann nicht lang reden Jean-Pierre und Claude sind zwei Spezialisten, die ich ebenfalls seelsorgerisch begleite und die klopsen sich gleich ins Sitzpolster weil es gerade nicht läuft. Auf Bald bis zur nächsten Langstrecke, stark gefahren!

 

Das letzte Mal die Einfahrt zur Schule, noch drei Höhenmeter, ausrollen, Finger an die Bremsen, dann bin ich da. Angekommen, vorbei, Ziel erreicht.  Handshake mit meinem französischen Begleiter, Danke. Platz 5 geht trotzdem an mich, da ich später gestartet bin, hatte ich ihm gegenüber einen Zeitvorteil. Arnauld mein Telefonjoker mit den wertvollen Ratschlägen, wenn ich mal wieder falsch abgebogen bin, überreicht mir mein Finisherpräsent: ein rechteckiges Stück Holz mit einer kleinen Plakette, die meinen Namen trägt. Das Ding ist toll! Die Dame, die hier den Laden regelt und mich auch immer wieder ermutigt hat, steht neben mir. Jetzt würde ich sie gern umarmen, um mich zu bedanken für ihre Unterstützung, doch ich traue mich nicht. Sie knufft mich in den Oberarm und fragt mich, ob wir uns beim Race-Across-France wiedersehen? Das sind 2.500 Kilometer mit 30.000 Höhenmetern. Noch bevor ich mir die Belastung der letzten 1.000km aus dem Hemd geschüttelt habe, rotiert schon die nächste Idee durch meinen Kopf. Mal sehen, vielleicht irgendwann einmal. In den letzten 72 Stunden, seitdem ich am Dienstag zu Hause aufgewacht bin, habe ich 3-3,5h geschlafen, mein Körper ist leer. Jetzt eine Mütze Schlaf oder doch erst unter die Dusche? Ich kombiniere vielleicht.

 

Der Schlafsaal nach dem Rennen liegt hinter mir, die Erinnerung an diese Reise durch Belgien ist abgespeichert unter dem Stichwort “Wertvoll“, da klingelt erneut mein Telefon. Jener Klingelton vom Beginn dieser Erzählung. Die Melodie stammt aus dem Lied „A Real Hero“. War am Ende doch nur Radfahren, mal wieder.

 

Beste Grüße

Vom Rosenkavalier

 

Strava Eintrag

Galerie

 

 Vielen Dank: Tanja, Benni, Falk, Jennifer, charmante Dame vor Ort, Moderator, Greg fürs Lenkerband wickeln im Vorfeld, Christian, Geldbeutel, Fahrrad

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Timi Downhill (Samstag, 01 Juni 2024 20:02)

    Hey Uller!
    Mir fehlen die Worte für Deine Leistung. Unfassbar. Danke, dass Du uns mit dem Bericht auf diesen himmlischen Höllentrip mitgenommen hast. Jetzt tut mir irgendwie auch alles weh. Ich bin glücklich und stolz, dass Du das Ding so erfolgreich durchgezogen hast! Du bist der Geilste!!
    Bussi,
    Dein Gay-Star