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Schlaflos zwischen den Toren

Ein leises Brummen, so bahnt sich der ICE 856 seinen Weg von Ost nach West. Warm ist es im Abteil, die Sonnenstrahlen kitzeln sich mit aller Kraft durch die Fenster. Irgendwo im Radabteil klappert es, die Ursache findet sich nicht. Zwischen zwei automatischen Glasschiebetüren sitze ich auf einem der beiden Klappsitze den Kopf ans Fenster gelehnt. Neben mir auf der Winzigkeit einer Fensterbank liegt eine halb leergefutterte Tüte Gummibären. Zu meinen Füßen mein Rucksack, daneben die Flasche Orangenlimonade. In einer Hand halte ich mein Zugticket bereit für die Kontrolle, die andere Hand nutzt die Zeit zur freien Verfügung. Mein Portemonnaie drückt in meinem Rücken und trotzdem, ich schaffe es für einige Minuten wegzudämmern.

Mit einem sanften Surren öffnet sich die Glastür und eine Person nähert sich. Zurück aus meinem Power-Nap schrecke ich hoch, stehe auf, um der Person nicht im Weg zu sein. Der Moment als ich aufstehe, dann für einen Augenblick in dieser Position verharre, reicht um diesen kolossalen Fehler zu spüren. Krampf! Krampf im linken Bein, und was für einer. Mit schmerzverzerrtem Gesicht humple ich durch das Abteil. Schreien wäre angebracht, Weinen noch viel mehr. Diesen Krampf bekomme ich einfach nicht aus dem linken Bein gedrückt. Meine Mitreisenden nehmen keinerlei Kenntnis von meinem Schmerzen. Dehnen, rausdrücken, mal so, mal so. Es dauert einige Minuten bis ich wieder in meiner  Ausgangsposition vor mich hindösen kann. Erschöpfung > Erholung, so das Kräfteverhältnis an diesem späten Nachmittag im Juni. Nur was hat mich in diese Situation gebracht? Wo hatte der Zug seinen Startpunkt? Fährt der Kerl mit einem 9€ Ticket im ICE? Darüber und noch viel mehr müssen wir reden, mit diesen Protagonisten:

Klaus aus Brilon, Falk aus Bodenburg, Alex aus Berlin, Jonathan aus der dritten Klasse, Daniela vom Büro gegenüber, Tanja und Benni von zu Hause und ich, ich bin auch dabei.

 

Nervös

Es ist Donnerstag, der Tag bevor es losgeht, als die Türklingel mich von meinen Vorbereitungen ablenkt. Als ich die Tür öffne, schaut ein Augenpaar zu mir rauf. Jonathan, 9 Jahre, ein Schulfreund meines Sohnes möchte mit ihm spielen, doch er hat noch Fragen an mich:

 

Jonathan: "Du willst mit dem Fahrrad nach Berlin fahren?"

Ich: "Ja."

Jonathan: "Schaffst du das auch?"

Ich: "Puh, Äh, Hmmm, Naja … ich werde es probieren."

 

Nun gut ein Neunjähriger lockt mich aus der Reserve und legt meine eigene Verunsicherung offen. Schön dass wir drüber gesprochen haben. Ich habe den Entschluss gefasst von Trier nach Berlin zu fahren. Ja, wirklich. Eine Idee, die ich schon im Jahr 2021 umsetzen wollte, nur in entgegengesetzte Richtung. Zu jenem Zeitpunkt bremste mich der Bahnstreik aus, doch jetzt soll es gelingen. Mein Track hält ca. 740km bereit und ist garniert mit sechs bis sieben Tausend Höhenmetern. Neben Asphalt hat mein Track noch ca. 10% Schotterpassagen im Repertoire. Mein Zeitplan ist eng gestrickt. Ab Freitagnacht, 1 Uhr Porta Nigra, habe ich bis 15:42 Uhr am Samstag Zeit den Hauptbahnhof in Berlin zu erreichen. Dazwischen will ich natürlich noch das Brandenburger Tor ablichten. Unter 36h Brutto ist meine Wunschvorstellung. Schlafen? Nein, auf Schlaf will ich verzichten, sonst wird es eng mit der Bahn. Neben allen Vorbereitungen, die das Material betreffen, ist der Kopf in den Tagen vor meinem Aufbruch die größte Baustelle. Abseits aller Euphorie, Neugier, Vorfreude, spuken in meinem Kopf auch die Unwägbarkeiten hinsichtlich Wetter und Verkehr umher, sowie die Frage: Kann mein Körper das überhaupt? Diese Gedanken beschäftigen mich sonst immer im Nachgang meiner Fahrten, jetzt also schon im Vorfeld. Doch jetzt muss ich ins Bett, halb sieben bette ich mich im Kinderzimmer, so störe ich auch niemanden. Sechs Stunden später werde ich am Rad sein, Gute Nacht.

 

Nachtgedanken

00:38 piepst der Wahoo mich in meinen ersten 700er rein. Doch bevor ich fahre, habe ich mehr als nur einmal nachgeschaut, ob die Haustür auch richtig geschlossen ist, habe mein Geldbeutel und den Haustürschlüssel auf Anwesenheit im Gepäck geprüft. Bei meinem Nachbar ist noch Licht, er hat noch keinen Gedanken an schlafen verschwendet. Ich mach das ab jetzt auch nicht, bis Berlin?! Los geht es.

Der erste Abschnitt führt von Trier durch die Eifel bis an den Rhein, für die Fährüberfahrt ab Bad Breisig. Die Weste flattert offen im Wind, das Wetter erlaubt Kurz-Kurz. Zügig husche ich durch die Stadt, von Verkehr kann keine Rede sein. Kleinere Ortschaften begleiten meinen Weg bis Wittlich. Leichter Regen verleitet mich dazu die Regenjacke überzustreifen, aber etwas passt noch nicht.

Im Frühjahr beim Fleche waren wir zu viert unterwegs, als es in die Nacht hinein ging. Wenn einer von uns eine schlechte Phase hatte, waren die drei Kollegen mit motivierenden Worten oder Windschatten zur Stelle. Im Hier und Jetzt bleibt mir nur der alleinige, starre Blick in den Lichtkegel vor mir. Ich fahre zwar Fahrrad, nur der Fokus fehlt mir. Viel zu viele Gedanken drehen sich in den ersten Stunden darum umzudrehen, zurück ins Bett. Mit dem Wetterbericht habe ich das große Los gezogen, entgegen aller Vorhersagen bleibt es vorerst von oben trocken. Am Ende einer langen, steilen Rampe warten die ersten Anzeichen von Tagesanbruch auf mich. In Kaisersesch, mit ca. 87km auf der Uhr, um halb fünf am Morgen küsst der nahende Tag meine Konzentration und Aufmerksamkeit wach. Ich verschwende keinen Gedanken an Berlin, das wäre noch viel zu früh, das Zwischenziel heißt Rhein. Jetzt bin ich im Thema drin. Auf diesen ersten 130km bis zum Rhein türmen sich mehr als 2000 Höhenmeter vor meinem Rad auf. Nicht alles davon rollt über Asphalt. Aus Mayen und Burgbrohl heraus wird es steil mit Schotter unterlegt. Trotz aller Anlaufschwierigkeiten bin ich kurz vor sieben an der Fähre, voll im Zeitplan. Ganz unbewusst balle ich meine Hand zur Faust und feuere mich selbst an.

 

Falk fragt um 6:35 Uhr: „Wie läuft es bei dir?“

6:51 Uhr ich antworte: „Rhein, kein Regen bisher“

Falk erneut um 6:57 Uhr: „Dann liegst du ja im Zeitplan.“

Meiner Frau Tanja schreibe ich um 6:55 Uhr: „Bin über den Rhein.“

Sie antwortet 7:58 Uhr: „Das war doch der Plan! Benni sagte heute morgen auch, dass du sicher schon am Rhein bist. Wir haben dich lieb!! Pass auf dich auf!“

 

Freitagsfeuerwerk

Neben Treten, Navigation und der Kommunikation mit den Menschen die dieses Vorhaben unterstützen, fordert die Energieversorgung meine ganze Aufmerksamkeit. Um es kurz zu machen: Es schmeckt nicht! Riegel in verschiedensten Ausführungen wollen an diesem Tag einfach nicht meinen Gaumen umschmeicheln. So esse ich nur so viel, wie es gerade braucht. Aber nach dem Rhein bietet sich mir die Gelegenheit eine  „Delikatesse“ zu genießen. Käsebrote. Am Vorabend habe ich mir zwei Brote für die Fahrt mit einer Extra-Brise Salz zubereitet.  Das eine Brot verspeise ich am Rhein, die zweite Schnitte spare ich mir für später auf.

Auf dem anspruchsvollsten Teil meiner Reise vom Rhein nach Brilon im Sauerland sammle ich durchs Bergische, Westerwald, Sieger Land und Sauerland 2776 Höhenmeter auf 177,06km ein. Meine neugierige Euphorie lässt die Beine besser drehen, als noch zum Beginn meiner Fahrt. Auf den Straßen ist der Stresspegel schon enorm, vor allem durch die Menge an Idioten hinterm Steuer, die Radfahrer nicht mit entsprechenden Seitenabstand überholen können/ wollen. Und trotzdem, die Beine drehen ganz wunderbar in Richtung Nordosten. Meine Zwischenziele halte ich ein. Bis 12 Uhr will ich 230 Kilometer auf der Habenseite haben (großartiges Deutsch). 12 Uhr, Zwischenziel geschafft! Wo das genau ist? Egal. Nächstes Ziel der schöne Klaus bis 16 Uhr.

Radsportlehrbuch Seite 1, Vorsicht Merksatz: Wenn du ins, ums oder durchs Sauerland fährst, rechne immer mit Regen in jeder vorstellbaren Variation. So füge ich mich meinem Schicksal, das sich dreimal durch meine Garderobe spült. Nach dem letzten Schauer scheint irgendwann im Sauerland mal wieder die Sonne, auch für mich. Etwas Mountainbikelastig kringeln sich die letzten Kilometer bis zum schönen Klaus. Punktlandung 16 Uhr, innerlich feiere ich mich selbst, zweiter Abschnitt geschafft. In 24h sitze ich schon wieder im Zug, so ärgern mich meine Gedanken im Hier und Jetzt. Wer ist eigentlich der schöne Klaus? Dazu gleich mehr, erst die Fanpost.

 

Daniela von Arbeit, aus dem Büro gegenüber hat am Vormittag geschrieben: „Wenn du in Berlin bist, kannst du doch die Firmenzentrale besuchen. Die Fahrt können wir dann bei - Mit dem Rad zur Arbeit-mit einrechnen.“

Gedankenmemo an mich selbst: „Du bist noch nicht kaputt genug, um angemessen darauf zu reagieren.“

Nachricht an Falk: „Bin bei Klaus, lass dir Zeit.“

Nachricht an Tanja und Benni: „Bin beim schönen Klaus.“

Tanja antwortet: „TipTop!!! 1. Etappenziel erreicht.“

 

Klaus

Der schöne Klaus ist? Kennengelernt habe ich Klaus durch gemeinsame Zeiten in einer Radsportmannschaft. Bescheidenheit und ein großes Herz für Pflegekinder prägen ihn und seine Familie. Auf den Rennen nannten Ihn die Konkurrenten immer die Lokomotive aufgrund seiner unbändigen Kraft. Heute nennen ihn seine Bewunderer nur: „Der schöne Klaus.“ Bei meiner Ankunft blicke ich über den Zaun und sehe einen Mann mit schulterlangen Haaren, mit der Lässigkeit eines Rockstars und einem Hund im Arm. Es ist Klaus. Gott sieht er schön aus! Klaus ist 10 Jahre älter als ich, sieht aber aus wie Mitte zwanzig. Ich bin 41 und für den Moment habe ich Probleme damit aufrecht zu gehen.

Klaus versorgt mich mit Essen, Trinken und einer kurzen Unterhaltung. Mit Menschen sich zu unterhalten ist eine schöne Sache nach so vielen Stunden allein. Zählt ein Tankstellendialog wie: „Karte hier einstecken oder auflegen“, schon als Unterhaltung? Die Zeit fliegt. So sehr ich mich auch freue, Klaus nach langer Zeit wieder zu sehen, so wirklich lang kann ich nicht bleiben. Mein Rad verlangt nach Krafteinwirkung am Antriebsstrang. Doch Klaus will mich ein Stück meines Weges begleiten. Er sagt über sich selbst, dass er nicht mehr viel trainiert. Seine Beine sprechen eine andere Sprache. Da ist sie wieder die menschliche Asphaltiermaschine. Aus dem Sauerland geht es raus Richtung Weserbergland. Die Tachonadel fällt nur sehr selten unter 30km/h. Bin ich einmal im Windschatten ist alles gut. Schweifen meine Gedanken einmal ab, schweift auch Klaus davon. So fahre ich regelmäßig kleine, fiese Intervalle, um die Lücke zu stopfen. Nach 70min bedanke ich mich bei Klaus, aber in diesem Stil werde ich Berlin nicht erreichen können. Mit einem Eis auf die Hand beschließen wir den gemeinsamen Nachmittag und ich bin weg Richtung Holzminden.

 

Falk hat unterdessen geschrieben: „Starte hier gegen 18:30“

18:12 Uhr schreibt Falk: „Bin los“

 

Sonnenstunden

Frühstart! Egal, es läuft bei mir auch ganz anständig. In östliche Richtung sehe ich noch ein Gewitter davonziehen. Die Straßen sind hier und da noch etwas feucht, doch die Sommersonne trocknet die Straße. An der Weser entlang, erreiche ich ohne es zu merken die Halbzeit meiner Reise. So gesehen, das Bergfest im Tal. Es fühlt sich in diesen Stunden so leicht an, das Rad durch die Felder und am Fluss entlang zu bewegen. Überall in dieser Phase meiner Fernfahrt präsentiert sich die Landschaft von ihrer schönsten Seite. Da, wo es was zu schauen gibt, werde ich abgelenkt von den Strapazen des Tages. Beverungen und Höxter laden schon fast zum Verweilen am Fluss ein, doch die nächste Pause wartet erst in Holzminden auf mich. Dort angekommen, suche ich nach einem zentralen Punkt, wo ich Falk treffen werde. Zeit für Gedankenaustausch:

 

Ich schreibe an Tanja und Benni: „Mehr als 400km in Holzminden. Die Zeit sieht gut aus. Die Nacht bringt die Entscheidung. Hab euch lieb.“

Tanja schreibt zurück: „Wir sind alle sehr stolz auf dich. Pass auf dich auf! Wir lieben dich auch!“

Meiner Kollegin schreibe ich auf die Nachricht vom Vormittag: „Grüße aus dem Weserbergland, zur Zentrale des Dienstherrn fahre ich garantiert nicht. Schönes Wochenende.“

 

Falk

So sitze ich vor dem zweiten Umschlagplatz für Mineralöldevotionalien meiner Fernfahrt. Die Backen gefüllt mit den Schlemmereien des Feinschmeckertempels stelle ich fest, dass der Spritpreis noch viel zu günstig ist. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass die Halbstarken dieser Stadt ihr CO2-Wunder vor den Eingang der Tankstelle parken und den Motor laufen lassen.

Alle Gedanken verfliegen, als mit Falk die Sonne noch einmal an diesem Tag aufgeht. Falk ist ein Brevetfahrer mit einem Gepäckträger voll mit Langstreckenerfahrungen. Zugleich ist er ein Freund, der mir im Vorfeld bei der Planung mit Rat und Tat zur Seite stand. Von Holzminden fahren wir gemeinsam zu ihm nach Hause. Wie der Landstrich zwischen hier und dort genau heißt, erschließt sich mir nicht. Das spielt bei fortschreitender Bewegungszeit auch nur noch eine untergeordnete Rolle. In Alfeld ist das Helligkeitspotential des 24.06.2022 dann doch erschöpft. Bei einsetzender Dunkelheit merke ich, wie mein Bewusstsein so allmählich den Rollladen runterlässt. Müdigkeit gepaart mit einem längeren Anstieg, kann es was Schöneres geben? Ja, Falk hat einen Hinterradschaden. Es stört mich nicht sonderlich, da ich aktuell noch voll im Zeitplan liege. Um die Zeit sinnvoll zu nutzen, snack ich eine Kleinigkeit beim unmotivierten Dehnen der Gliedmaßen. Die restliche Zeit sitze/ liege ich auf der Straße und halte das Rad von Falk, unterdessen er fluchend seinem Hinterrad neues Leben einhaucht. Erschöpfung und Müdigkeit nagen an mir, sie wollen mich zu einem Schläfchen nötigen. Nicht mit mir, die Bahnfahrt ab Berlin ist gebucht, und dabei bleibt es auch.

Die noch verbleibenden Höhenmeter am Adenstedter Pass passieren einfach, genauso wie die folgende Abfahrt. Wie genau? Keine Ahnung. Dieser Zustand der geistigen Abstinenz zu dem was ich gerade tue, ist neu für mich. Die Pause wird es hoffentlich richten.

Bei Falk angekommen ist mein dritter Teilabschnitt geschafft, nun richte ich mich für den vermutlich topografisch einfachsten Teil meiner Strecke. Die Trikottaschen werden mit Nahrung aufgefüllt, die Trinkflaschen werden mit Treibstoff geflutet, ein kleiner Bike-Check zu später Stunde und und und. Natürlich werfe ich auch einen Blick ins Postfach:

 

22:55 Uhr Alex schreibt: „Guten Abend. Wir freuen uns, wenn Du bei uns in Berlin vorbeikommst. Schlüssel liegt unter der Fußmatte, Zimmer im 1.OG mit geöffneter Tür steht dir zur Verfügung. Badezimmer 1.OG auch. Handtuch liegt schon auf der Treppe.“

22:56 Uhr Alex schreibt erneut: „Ansonsten freue ich mich, wenn ich dich ein wenig begleiten darf. Wann bist du denn z.B. in Magdeburg oder Brandenburg?“

00:02 Uhr ich antworte: „Ich melde mich bei dir, wenn ich die Elbe überquert habe. Das plane ich für 7Uhr. Danke für euer Angebot.“

 

Durchhalten

Nach Alex macht auch Falk mir noch ein Angebot, bei ihm eine Mütze Schlaf zu bekommen. Ich schlage aus. Ich empfange noch eine Doppelstulle mit Käse von ihm. Dankeschön. Es vergehen 20-25min unkoordiniertes Tun und Machen, bis ich den letzten Teilabschnitt mit 280km Streckenlänge bis Berlin im Wahoo lade. Mit frisch geschmierten Bäckchen kuschel ich mich wieder in den Sattel in dem Wissen, dass die folgenden Stunden nur schwer werden können.

Und es wird schwer. In den ersten Minuten nach der Pause spüre ich kurzfristig eine geistige Frische, die über jeden Ansatz von Müdigkeit erhaben zu sein scheint. Doch dieser Zustand schwindet auch so schnell wie er gekommen ist. Gegen die Müdigkeit halte ich meine Aufmerksamkeit mit Kopfrechnen auf Trab. So versuche ich mögliche Ankunftszeiten oder Zwischenziele zu ermitteln. Jede halbe Stunde ein Gel, optional ein Riegel, es ist ein Tanz auf des Messers-Schneide zwischen Hungerast und ausreichender Kalorienzufuhr. Die Landschaft zwischen Bodenburg und Helmstedt gibt nicht viel preis in dunkler Nacht. Hin und wieder werde ich von Fahrzeugen passiert, Passanten wie könnte es anders sein, treffe ich nur sehr selten an. Einsamkeit trifft Müdigkeit. Ich singe dagegen an mit ein bis zwei Textzeilen aus dem Lied „Stadt“, dass ich noch in den Tagen zuvor im Radio gehört habe:

 „Ich bau' 'ne Stadt für dich - Aus Glas und Gold wird Stein - Und jede Straße, die hinausführt - Führt auch wieder rein - Ich bau' eine Stadt für dich und für mich“

Mit diesen Zeilen singe ich mich durch die Nacht, nur unterbrochen von den Momenten, wenn ich mit mir selbst schimpfen muss. Dass passiert immer dann, wenn ich abseits befestigter Wege mir mit Durchschlägen fast noch einen Defekt einhandle. Es kommt der Zeitpunkt als sich der Tagesanbruch ankündigt. Meine Moral bekommt so die zweite Luft. Berlin ist nicht mehr weit, treibe ich mich weiter an. In Sachsen-Anhalt habe ich mir einen hohen Anteil von Gravelabschnitten in den Track geplant, die mich gefühlt auf der Stelle treten lassen.

Zurück auf Asphalt geht es doch sehr schnell. Ich kreuze den Mittelandkanal, passiere Wolmirstedt, dann endlich ist es soweit, ich erreiche die Elbe. Eine viertel Stunde vor meinem Zeitlimit, schöpfe ich aus dem Zwischenziel neue Motivation.

 

6:47 Uhr schreibe ich Alex: „Elbe Check. Lass uns mal telefonieren, wenn es bei dir passt.“

6:47 Uhr schreibe ich Falk: „Elbe“

6:48 Uhr schreibe ich Tanja: „Elbe“

6:51 Uhr Falk fragt: „Gut durch die Nacht gekommen?“

Ich antworte umgehend: „Ja, war in Ordnung“

6:52 Uhr Falk merkt an: „Den Rest sitzt du auf einer Arschbacke ab“

 

Backenprobleme

Eine intakte Arschbacke wäre Luxus. In Sachen gluteus maximus (lat. Gesäßmuskel) tut sich gerade eine Baustelle auf. Alle Stellen meines Körpers, die Kontakt mit dem Rad haben, melden Havarie. Ob Sitzen, Greifen, Pedalieren, jetzt ist Schluss mit lustig.

Auf einem Damm im Jerichower Land ist es Zeit für Frühstück und ein Moment der Erholung. Es gibt Käsebrot an Cola mit einem Gel als Marmeladenersatz. Am Telefon tausche ich mich mit Alex aus, wann und wo wir uns treffen können für den finalen Ritt in die Hauptstadt. Der Kilometerzähler meldet mehr als 620km zu diesem Zeitpunkt. Eine Zahl bei deren Anblick ich schon vor Stolz platzen sollte. Tu ich aber nicht. Mein Geist läuft nur noch auf Reserve, es geht nur noch um das was vor mir liegt.

Das Jerichower Land mit seinen weiten Flächen und einer für meine Wahrnehmung geringen Bevölkerungsdichte, wird der letzte Ruhepol sein, vor der großen Stadt. Doch bevor ich auf die lange Gerade Richtung Berlin einbiege, erfreue ich eine weitere Tankstelle mit Umsatz. Nicht zu vergessen die Wortmeldungen zu überblicken:

 

Im Internet tut sich folgender Wortwechsel auf:

Alex kommentiert Falks Strava-Eintrag: „Sehr schön. Wie war er denn drauf? Ich stehe gerade am Bahnhof, um ihn mit dem Regionalexpress entgegen zu fahren. Und mit dem Fahrrad zu begleiten.“

Falk antwortet: „Gut, hat nur bemängelt das es bis dahin keine Kopfsteinpflasterpassagen gab!“

 

Alex schreibt mir um 9:04 Uhr: „So - sitze im Regional Express Richtung Magdeburg. Wo bist du denn gerade? Dann kann ich ermitteln wo ich aussteigen & Dir entgegenschlendern kann.“

Alex schreibt mir erneut um 9:05 Uhr: „Meine Frau hat Dich für vollkommen verrückt erklärt („Von hinter dem Eurener Hof? Mit dem Fahrrad? Ohne Pause?“)“

Ich antworte 9:13 Uhr: „Ich bin gerade in Genthin und fahre weiter.“

 

Alex

Genthin, diese „Perle“ in Sachsen-Anhalt an der B1, die schnurgerade nach Brandenburg führt. Kopf runter und Augen zu. Die Monotonie wird nur durch den Gegenverkehr auf meiner Fahrspur unterbrochen. Kurz vor Brandenburg in Brandenburg treffe ich Alex. Wir kennen uns zu diesem Zeitpunkt gerade etwas länger als zwei Monate, haben gemeinsam einen 400er absolviert und ich bin unglaublich dankbar, dass er mir im Hier und Jetzt die Brotkrumenspur bis zum Brandenburger Tor auslegt. Alex hat auch einen Faible für Langstrecke. Vor gerade mal vier Tagen hat er sich erfolgreich eine Mehrtagesveranstaltung mit 1200km im fernen Irland in die Beine geschraubt. Ehrlich gesagt, merke ich ihm die Belastung gar nicht an.

Noch 80km bis zur Ziellinie. Körperlich bin ich noch anwesend, nur geistig entrücke ich zunehmend meiner Tätigkeit. Kleines Beispiel gefällig? Alex erklärt mir, dass meine eigentliche Route etwas umständlich geplant ist und wir jetzt anders fahren. Ich verstehe es nicht, täusche aber Aufnahmefähigkeit vor. Ich folge einfach seinen Handlungsanweisungen.

Alex gibt kurze, klare Kommandos, winkt mit den Armen bei Richtungsänderungen und Hindernissen, gibt Hinweise bei Gullydeckeln, versorgt mich mit Infos, eine perfekte Rundumbetreuung eben. Alex wäre der deutlich bessere Wahoo? Viel kann ich im Moment nicht zurückgeben, selbst Unterhaltungen enden in unvollständigen Sätzen oder wirren Aussagen.

Es kommt der Zeitpunkt, da stelle ich fest, dass sich abseits der Straße nur noch Bebauung befindet, statt gelegentlichen Naturimpressionen. Alex gibt mir wenig Hoffnung auf Besserung bis zum Tor. Ausgestattet mit dieser Information in Kombination mit noch 45 zu fahrenden Kilometern, springt der letzte Rest Euphorie vor den nächsten heraneilenden Bus. Eine letzte Snackpause in Werder beim Netto-Bäcker, verschafft meinem geschundenen Körper eine kurze Verschnaufpause. Der stete Wechsel von Straße – Radweg – Straße hält meinen Geist auf Trapp. Potsdam empfängt uns. Alex nimmt mich mit auf eine Express-Stadtführung unterlegt mit Straßenbahnschienen, ergänzt durch Ampeln, die in ihrer schönsten Rotfärbung uns auch nicht aufhalten können. Einer von Berlins „Bergen“, ein Fastunfall, dann sind wir da. Noch nicht ganz am Brandenburger Tor.

Zu Hause bei Alex, reicht er mir noch einen Happen für den Radfahrerhunger und ich darf noch kurz duschen. Es ist unglaublich schön. Das Sauerlandfeeling auf der Haut ist zurück, nur diesmal umzingelt vom Fliesenbelag, herrlich. Für die letzten 23km trage ich den feinen Zwirn aus dem Hause BDR: Nationaltrikot. Dann sind wir wieder raus. Auf dem Kronprinzessinnen Weg rollen wir entlang der Avus ins Epizentrum der Hauptstadt. Links der Wald, rechts der Wahnsinn, mittendrin wir.

 

Finale

Wenn die Größe und Lautstärke dieser Stadt mich bisher überfordert haben, dann werde ich auf den letzten Kilometern erschlagen. Das Hinterrad von Alex ist mein Fixpunkt, das darf ich nicht verlieren. Die Notwendigkeit jetzt schnell zu fahren, ist lediglich dem Verkehrsfluss geschuldet. Kaiserdamm, Straße des 17. Juli, dazwischen noch diverse Kreisel. Wenn ich ohne Sturz bis Berlin gekommen bin, warum stelle ich dann mein Glück in einem vierspurigen Kreisverkehr auf die Probe? Überlebt. Von der Siegessäule bis zum Tor fährt heute kein Auto, perfekt. Der ziemlich verschlissene Steuersatz meines Rades reißt sich noch einmal zusammen, um für einen Moment freihändig fahren zu können. Keine 38h nach Abfahrt in Trier, stehe ich am Brandenburger Tor, das geht wirklich! Hmm, so wirklich eskalieren kann ich in dem Moment trotzdem nicht. Müde, schlicht und einfach müde bin ich. Mehr als einmal musste ich den Verlockungen von Parkbänken widerstehen, dem Wunsch meines Körpers nach Schlaf entgegentreten, nur um diese Strecke, den ersten 700er meiner kleinen Radsportgeschichte ganz ohne Schlaf auf die Habenseite zu heben. Ein klein wenig Stolz empfinde ich schon in diesem Moment. Dann folgt ein letzter Vokabelaustausch am Bahnsteig.

 

15:00 Uhr schreibe ich Tanja: „Angekommen!“

15:02 Uhr antwortet Tanja: „Du bist so irre!!! Aber wir lieben dich über alles!!!“

15:04  Uhrschreibe ich Klaus: "Angekommen in weniger als 38h ohne Schlaf. Danke"

15:07 Uhr Falk schreibe ich: „Angekommen in weniger als 38h ohne Schlaf. Danke!“

15:14 Uhr Falk schreibt zurück: „Du bist großartig“

15:41 Uhr schreibt Alex: „Uller, es war mir eine Ehre. Und eine Freude. Und dir wünsche ich guten Schlaf bis Köln. Auf dass Dich der RE nach Trier mitnimmt.“

20:05 Uhr schreibt Klaus: "Hi Uller, allergrößten Respekt. Hoffe auch die Heimfahrt verlief gut und du konntest dich schon ein wenig erholen. Servus Klaus"

 

Danke Klaus, Falk und Alex, für Essen, Trinken und die Dusche kurz vorm Ende. Danke, dass Ihr euch die Zeit genommen habt um mit mir zu fahren und mir durch eure Anwesenheit Motivation in die Trikottaschen gepackt habt. Tanja und Benni, Eure Toleranz gegenüber meine wirren Ideen ist beeindruckend. Vielen Dank, hab euch lieb!

 

Beste Grüße

Rosenkavalier

 

War noch was?

In 38 Stunden auf dem Rad frage ich mich immer wieder: „Warum?“ Da ich überwiegend allein unterwegs bin, beantworte ich mir meine Frage für gewöhnlich selbst: „Nach dieser Fahrt ist mit Langstrecke Schluss.“ Nur komisch, nach zwei Stunden im Zug ereilt mich schon die nächste fixe Idee. Wird das irgendwann auch mal besser?

 

Strava-Link 700er

Bildergalerie

 

Bildrechte Titelbild: Alexander Westphal

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Kommentare: 3
  • #1

    Falk (Samstag, 30 Juli 2022 21:42)

    Was soll ich sagen: bin wenn sich ergibt, immer wieder mit von der Partie !

  • #2

    Micha (Samstag, 30 Juli 2022 22:51)

    Wie immer bist du etwas verrückt. Eine tolle Leistung und ein schöner Bericht.

  • #3

    Andreas (Sonntag, 31 Juli 2022 09:56)

    Danke Ulrich für diesen klasse Bericht, kann mich genau in Deine Lage versetzen