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Gastbeitrag: #projectgelato

#projectgelato steht für die klassische Eisdielenrunde im Freiburger Hochsommer bei 35°C. In Hawaiihemd und Baggyshort gezwängt, den auf Hochglanz polierten Renner aus dem Keller geholt, die dicke Sonnenbrille mit Goldrand vor die Augen und auf zur 2-Stunden-Trainingsrunde mit Zwischenstopp bei Café, Konditorei und Gelateria. Befänden wir uns im August 2019, wäre die Eisdielenfahrt hier zu Ende. Am Wochenende würden Goldrandbrille und lässige Baggyshort gegen die aerodynamische Rennbrille und den Einteiler getauscht und die Startnummer bei einem Worldseries-Rennen irgendwo in Europa angeheftet. Leider benimmt sich der Radsportmonat August 2020 nicht wie der Radsportmonat August 2019.  Der stark eingekürzte Wettkampfkalender ist das eine. Ebenso schwingt bei dem Gedanken an eine Teilnahme an der ein oder anderen Veranstaltung, die vielleicht doch stattfindet, ein ein wenig fahler Begleitgedanke mit. „Veranstaltungen mit immerhin noch 500 Personen und dazu quer durch Europa reisen? Muss das wirklich sein zurzeit?“ Vor Ausbruch der Pandemie waren wir noch im Trainingslager in Italien und haben wir uns seitdem zu Hause im Südschwarzwald die Zeit ohne Wettkämpfe vertrieben – zeitweise mit einem „Everesting“ über 290 Kilometer, 9.012 Höhenmeter und jedem Berg im Südschwarzwald. Wohin mit der ganzen Energie, den unzähligen Trainingskilometern, den Bergen an Energieriegeln und der Form des Lebens? Und Italien? Pizza, Gelato, Espresso und Vino? Im Notfall geht das auch zweimal im Jahr.

 

Wer Langeweile und dabei zu viel Kaffee hat, kommt auf dumme Ideen: Wir fahren die beste und eigentlich einzig wahre Espressorunde der Welt. Kommen wir fahren mit dem Rad von Freiburg bis nach Italien? Google Maps, was sagst du dazu? 330 Kilometer und etwa 5.000 Höhenmeter bis nach Reschen, den von Freiburg am besten zu erreichenden Ort Italiens. Stichwort „Kilometerinflation“ – 300km sind die neuen 100km. Zitat von H (wir sollten es noch bereuen): „Junge, ich hab’s! Ab Reschen sind’s nur 200 Kilometer Radweg bis zum Gardasee!“

 

Es folgt tatsächlich der originale WhatsApp-Chatverlauf, der im Nachhinein eigentlich stellvertretend für das ganze Projekt steht:

 

H (vielleicht ein kleines bisschen zu viel Kaffee intus): Komoot-Route. H hat ein Outdoor-Abenteuer mit Komoot geplant! Distanz 525km. The most bekloppte Scheiß of your life

 

H: My best friend: the Name ist Programm, würde ich sagen. Bist dabei?

 

H: Danach ist alles eierschaukeln

 

H: Ist’s going to kill you-und auf jeden Fall nicht softly.

 

A: Halt die Fresse

 

A: Aber sollte ja morgen um 3 bei Start kein Stress sein

 

A (Nach Angst kommt Übermut): Am zweiten Tag dann zum Meer?

 

H: Ok, muss vielleicht nochmal kurz bissle genauer in der Route schauen. Aber Start-Ziel?

 

H: Kommt ja auf 20-30km auch nicht mehr an 😂

 

A: Sagte er und machte die 600 voll 😂

 

A: 30er Schnitt 18:20 Fahrzeit

 

H: 😂😂😂

 

H: Muss gerade (ganz alleine in meinem Zimmer) richtig lachen

 

H: Ok, das Ding ist übel

 

A: Und bei gut 1200hm pro 100km ist das auf keinen Fall gepimmel. Da fahren wir ablöse vorne ab [Freiburg] Kappel

 

H: 512km belgischer Kreisel-damit kommen wir wahrscheinlich auch ins Guinnessbuch

 

A: Eigentlich geschenkt. 2000hm weniger als beim Everest und dafür nur 200km mehr...fast lächerlich

 

H (mittlerweile komplett dumm): Also aus subjektiver Sicht denke ich, dass das ähnlich lässig wird wie’s Everesten.

 

H: Also sollte locker gehen. Müssen halt gucken, dass der Moment, an dem wir zum ersten Mal sterben nicht vor Italien und der zweite nicht vor Bozen kommt. Ab da ist nur noch Rollen

 

A: „Nur noch rollen“…

 

A: Ähnlich lässig...schön formuliert für komplett ENDE

 

A: Ich denke einen Schritt weiter jetzt. Wo pennen wir? Wie kommen wir heim? Klamotten? Ich fahr auf jeden Fall nicht mit Rucksack

 

A: Begleitfahrzeug wäre lässig und 1-2 Tage am See. Auto stelle ich, brauchen nur n Fahrer der Bock hat auf 2-3 Stopps auf der Fahrt und bissl Urlaub unten

 

H: Besorge ich.

 

H (jetzt mit richtig Angst): Ok fuck, du willst das echt machen, oder?

 

H: Junge, das war n Scherz. War komplett Endstufe grau beim Everesten 😂

 

Folglich stand der Plan: Freiburg nach Riva del Garda – 550 Kilometer – 6.000 Höhenmeter – und damit es einigermaßen herausfordernd wird, innerhalb von 24h.  

 

Dass dieses Vorhaben etwas mehr Planung als das Everesting benötigt, wo „einfach mal früher aufstehen“ als völlig ausreichend erachtet wurde, dem waren wir uns durchaus bewusst. Also: Zeitpunkt, Routenplanung, Betreuung, Sponsoren. Zeitpunkt: Da blieben nur 4 Tage zwischen Uni und Arbeit bei uns übrig. Routenplanung: macht lieber mal Adrian (Man kann dieses Onlinegame „Komoot“ tatsächlich durchspielen). Betreuung: Die drei Freiwilligen dachten lieber nicht zu sehr über 24 Stunden Autofahrt und Mutterersatz für uns in dieser Zeit nach. Sponsoren: Was bringt mehr Aufmerksamkeit als jedes Rennen? Ein viertel- und ein halbstarker Mountainbiker auf dem Trainingsrennrad mit Kaffee in der Trinkflasche auf dem Weg von Freiburg nach Riva - nonstop.

 

Kommen wir zum Eingemachten: Vorbereitung und Planung ähnelten der unserer üblichen Rennen. Die Ernährung wurde zwei Tage vorher auf das nötigste reduziert – Kohlenhydrate, auch in Form von Eis. Gleichzeitig die körperliche Aktivität auf das zum Überleben notwendige reduziert. Coldbrew angesetzt, das Rad vom Profi gecheckt, Lampe montiert, die Flaschen gefüllt. Feierabend!

 

Donnerstag, 6.8.2020

 

3:20Uhr: Der Wecker klingelt. Kaffee, Brot, Müsli, Anziehen, Klo. Rennfeeling kommt auf. Nochmal Klo.

 

3:55Uhr: Es geht los, der Nachbar („ich habe da Licht bei euch gesehen.“) steht in der Tür und kommt spontan ein Stück mit – Meine Damen und Herren, es ist mitten in der Woche um kurz vor 4-welcome to Freiburg. Naja wir sind froh über jede Gesellschaft, Zeit in trauter Zweisamkeit haben wir ja noch lang genug.

 

4:10Uhr: Die Crew packt das Auto und startet.

 

6:30Uhr: Der Thurner und Titisee-Neustadt liegen hinter uns: Butterbrezel-Frühstück in Bonndorf. Die Crew wartet beim Bäcker. Lampe wird demontiert, sie bekommt schon noch ihren Einsatz – später.

 

8:30Uhr: Zweite Pause in Bülach – SCHWEIZ!

 

11:00Uhr: Wir sind an Zürich und am Züricher Berufsverkehr vorbei und halten am Walensee. Frische Flaschen, geschmierte Brötchen und Sonnencreme warten auf uns (die Crew klagt über mangelnde Freizeit – wir sind zu schnell). 6:55 Stunden Fahrzeit, 170 Kilometer, ca. 2.000 Höhenmeter.

 

14:30Uhr: Davos ist erreicht – 11 Stunden Fahrzeit, 260 Kilometer, ca. 3.500 Höhenmeter, 30°C im Schatten. Pause am Davoser See, bevor es aufs Dach des #projectgelato geht: Flüelapass.

 

16:00Uhr: Flüelapass (2.383m), über 2.000 Höhenmeter am Stück liegen seit dem Walensee hinter uns. Es folgt die Abfahrt Richtung Scuol.

 

17:15Uhr: 300 Kilometer geschafft (unser erster 300er) Der Stopp lohnt sich. Die Fahrer bekommen das erste Gelato, die Crew noch eine warme Mahlzeit.

 

20:15Uhr: Primetime! 350 Kilometer und über 6.000 Höhenmeter liegen hinter uns. Ab Ftan ging es über den Reschenpass und Nauders ins Etschtal runter. Von der Schweiz nach Österreich und schließlich nach Bella Italia. Wir montieren wieder unsere Lampen – die Nachtschicht beginnt gleich.

 

22:07Uhr: Pause in Burgstall, irgendwo an der Etsch zwischen Meran und Bozen. Es ist stockduster. Die Lampen sind zwar sehr gut, aber wir sehen seit circa 100km das immergleiche 2m breite und auf den ersten Blick etwa 20m lange Asphaltband. Kilometer 427 und jetzt die letzten Pausen im Abstand von 60 – 70 Kilometer. Um uns für die Nacht zu motivieren, fahren wir abwechselnd 10km-Ablöse. Jeder dreimal und wieder Pause. 35 – 40 km/h im Schnitt, ohne Gegenverkehr auf dem Etsch-Radweg, aber auch ohne Zuschauer.

 

00:30Uhr: Mitternacht ist durch, 490 Kilometer und mehr als 28 km/h im Schnitt stehen auf der Uhr. Pause mitten im Nirgendwo hinter Trento. Die Crew leistet weiterhin einen überragenden Job und füllt ein letztes Mal unsere Flaschen auf. Die Beine sind gar nicht mal das Problem. Wir sind mittlerweile 21 Stunden wach-wir sind einfach hundemüde-Sekundenschlaf auf dem Rennrad. Ein letztes Mal aufs Rad steigen, die letzten 2 Stunden, der See ruft! Oder vielleicht sind es auch nur die eintretenden Halluzinationen, wir werden es nie erfahren.

 

02:45Uhr: #projectgelato ist geschafft! In einem Punkt sind wir uns einig: die letzten zwei Stunden zählten wohl zu den härtesten unseres Lebens auf dem Rad. Der Spruch „nach müde kommt blöd“ war nie treffender. Schade nur, die Eisdielen haben zu. Gelato gibt’s erst nach dem Aufstehen.

 

Zusammenfassung von Freiburg nach Riva del Garda innerhalb eines Tages: 552km – 6.100hm – 19:30 Stunden Fahrzeit – 28,2km/h - ca. 200 Watt Schnitt – 15.000 kcal

 

War krass!

 

Hendrik und Adrian

 

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