Die ersten beiden Kurven nach meiner Haustür sollen mir zeigen, wie die Beine drehen, an diesem kalten Septembermorgen. So weit kommt es nicht. Denn ich verschütte in Kurve zwei versehentlich meinen wohl letzten Rote-Beete-Saft für dieses Jahr. Ein gelungener Start in den Tag, Willkommen beim Everesting 2018.
Siebzehn Jahre bin ich in ganz Deutschland und vereinzelt auch im europäischen Ausland Mountainbike-Rennen gefahren. Doch dieser Tag schiebt sich vorbei an all den Erfolgen, die ich erlebt habe. Der 1. September 2018 bleibt im Kopf und noch viel tiefer im Herzen. Ein Arbeitskollege sagte zu mir: „Das muss man erlebt haben, das kann man nicht beschreiben.“ Trotzdem, diesen einen Versuch gönne ich mir, zu beschreiben wie der Tag aus meiner Perspektive gelaufen ist.
Ab vier Uhr in der Nacht lieg ich wach. Kurz nach fünf Uhr sitz ich in der Küche am Laptop, um E-Mails zu beantworten. Zehn nach sechs durchstreife ich für frische Brötchen die letzten Ausläufer der Nacht zum Bäcker. Müsli, Radklamotten, Toilette, Räder einladen, Zähne putzen, Euterpflege …, ok fürn Arsch, aber meine Stimmung ist noch gelöst. Kurz nach sieben, Hendrik[i] sowie meine Familie sind schon unterwegs zum Berg, Onkel Nik[ii] folgt mir in seinem Auto. Unterwegs stelle ich fest, Pulsgurt vergessen, sehr schön. Und mit dem verschütten und verschmierten Rote Beete Saft, sehe ich aus wie der klassische Täter für die nächste CSI Staffel. Aus der Hornstraße links weg in die Markusstraße, meine Aufregung fährt mit mir jetzt Achterbahn. Ich würde gern dem Ganzen davonfahren, ich will aber auch unbedingt losfahren. Stefan Hanakam trägt ein T-Shirt durch den Tag mit meinem Konterfei darauf. Über die ganze Breite der Straße lese ich Anfeuerungsrufe. Auf Plakaten wünschen mir die Eltern betroffener KCNQ2 Kinder gutes Gelingen. Die Kindergartengruppe meines Sohnes hat pinkfarbene Plakate gezaubert. Ansporn für mich und eine Hommage an meinen verstorbenen Freund Mario „Muschi“ Peters. In diesen Momenten bin ich nicht nah am Wasser gebaut, ich steh mittendrin. Wenn das so weitergeht, ertrinke ich noch vor dem Start. Zwei Minuten vor halb acht ist das rot weiße Flatterband gespannt, Frau Welsch von der Volksbank darf das Band durchtrennen, sie hält die Schere erwartungsfroh in ihren Händen. Wäre ich ein Schiff, die Damen und Herren in meinem Blickfeld würden mir eine Flasche Sekt an den Kopf werfen. Basti Bethge [iii]fragt mich, ob ich noch letztes Statement der Internetgemeinde schenken möchte. „Nein!“ Lasst uns endlich loslegen.
Straßenmalerei © Rosenkavalier
Frühsport
Radsport ist an und für sich sehr simpel. Treten, schalten, dann wenn es nötig erscheint bremsen, gelegentlich lenken und immer wieder treten. Um schnell Rad zu fahren, braucht es viel Fleiß und Disziplin. Denn du bekommst das raus, was du reinsteckst. Und meine Investition in eine gute Form war in diesem Fall enorm.
Mit dem Zeitpunkt, als das Band durchtrennt wird, treten die Emotionen einen Schritt zurück, ich fange an zu arbeiten. Mein Plan, sehr schnell losfahren. Das kann ich, das habe ich in der Vergangenheit über ähnliche Distanzen bereits bewiesen. Sehr schnell losfahren? In den ersten Durchläufen fliege ich förmlich an meinem Berg. Acht Minuten glatt für den ersten Durchlauf. Hendrik und Onkel Nik bescheinigen mir in den ersten drei Runden einen Harakiri-Fahrstil in der Abfahrt. Top-Speed 72,7 km/h, sie haben wohl recht. Für die nächsten Stunden ist der Rhythmus gesetzt: Fahren, Essen Trinken und immer Weiterfahren. Irgendwann höre ich Basti rufen, langsamer zu fahren. Diese Aufforderung tangiert mich nicht im Geringsten. Die körperliche Krise, die mich einbremst, wird das schon regeln.